Die Identitäre Bewegung (IB) hat sich trotz ihrer vergleichsweise geringen Zahl an Aktivisten – rund 800 Personen im Juli 2018 – zu einer bedeutsamen geistigen Strömung entwickelt, die bei Sicherheitsbehörden als „rechtsextrem“ eingestuft wird. Ihre Ideologie ist eng verbunden mit der Vorstellung eines kulturellen „Großen Austauschs“, die in rechtsextremen Kreisen Europas weit verbreitet ist. Die Bewegung propagiert eine Exklusion von Menschen nicht-europäischer Herkunft aus dem demokratischen Prozess, was klar gegen das Grundgesetz verstößt und die Menschenwürde verletzt. Das Ziel der IB ist es, eine homogene „europäische Kultur“ zu bewahren, indem sie Personen ohne „ethnische Qualifikation“ ausgrenzt.

Diese Exklusivität führte zu einem politischen Mythos, der durch provokative Aktionen verstärkt wurde. Ein Beispiel ist die Störung einer Theateraufführung, bei der auch Flüchtlinge mitwirkten, durch die IB im Jahr 2016. Dennoch erlitt die Bewegung auch Rückschläge: Plattformen wie Facebook und Instagram sperrten 2018 die Seiten der IB in Deutschland und Österreich, ebenso wurde Génération Identitaire in Frankreich blockiert.

Eine besonders beunruhigende Verbindung besteht zu terroristischen Akten. Der Attentäter von Christchurch, Brenton Tarrant, unterstützte die IB finanziell, indem er dem österreichischen Sprecher Martin Sellner 1.500 Euro auf dessen Privatkonto überwies. Nach dem Anschlag durchsuchten österreichische Sicherheitsbehörden Sellners Wohnung wegen des Verdachts der Beteiligung an einer terroristischen Organisation. Der Kontakt zwischen Sellner und Tarrant umfasste auch E-Mail-Korrespondenz und ein Angebot, sich bei einem Treffen in Wien zu treffen.

Tarrant reiste zudem mehrfach durch Europa und spendete auch an französische Identitäre. Sellner übersetzte zudem eine deutsche Version des Buches „Der große Austausch“ von Renaud Camus, dessen Ideen zentral für die Identitäre Bewegung sind. Dieses Werk inspirierte Tarrant zu seinem 74-seitigen Manifest, das den gleichen Titel trägt und symbolisch für seine Ideologie steht.

Sellner wurde 2018 die Einreise nach Großbritannien verweigert, da seine Organisation als „rassistische Hassrede fördernd“ eingestuft wird und als Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gilt. Die österreichische Justiz leitete Ermittlungen wegen „Aufstachelung zum Hass“ und Bildung einer kriminellen Vereinigung ein, was zu Durchsuchungen bei der Führung der IB führte.

Ein Bericht des österreichischen Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2016 beschreibt die IB als Versuch, aus dem ideologischen Reservoir der Neuen Rechten eine massenwirksame Bewegung in Europa zu formen. Dabei werden öffentliche Räume durch anti-islamische und fremdenfeindliche Aktionen besetzt, was eine Modernisierung rechtsextremer Netzwerke darstellt.

Die internationale Vernetzung der IB zeigt sich auch in Verbindungen nach Estland, wo der Christchurch-Attentäter kurz vor dem Anschlag einen Aufenthalt hatte. Dort nahm er an Veranstaltungen teil, die vom faschistischen Gedankengut des Australiers P. R. Stephensen beeinflusst sind. Stephensens Werk „Foundations of Culture in Australia“ von 1936 ist ein Manifest antisemitischer und faschistischer Ideologien, die offensichtlich auch Tarrants Weltbild prägen.

Die Identitäre Bewegung zeigt, wie rechtsextreme Ideologien transnational wirken und durch digitale Vernetzung nicht nur politische Narrative verbreiten, sondern auch reale Gewaltakte inspirieren können. Die ideologische Radikalisierung von Einzelpersonen durch diese Netzwerke stellt eine erhebliche Gefahr für demokratische Gesellschaften dar.

Von grundlegender Bedeutung ist das Verständnis, dass die Identitäre Bewegung nicht nur eine politische Randerscheinung ist, sondern Teil eines umfassenderen Phänomens der rechten Ideologiekontinuität und Vernetzung. Die Verbindung zwischen intellektueller Rechtfertigung durch Werke wie „Der große Austausch“ und konkreten terroristischen Handlungen offenbart die Brisanz dieser Strömung. Zudem zeigt die staatliche Reaktion, dass demokratische Systeme auf diese Bedrohungen mit Überwachung und strafrechtlichen Maßnahmen reagieren müssen, um die freiheitliche Grundordnung zu schützen. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung darf dabei nicht allein bei der Strafverfolgung verharren, sondern muss die ideologischen Wurzeln und die Kommunikationswege der Bewegung tiefgreifend analysieren und bekämpfen.

Wie konnte das virtuelle Terror-Netzwerk unentdeckt bleiben?

Trotz umfangreicher Ermittlungen im Fall des Münchner Attentäters David S., die offiziell im März 2017 abgeschlossen wurden, blieb ein zentrales Element unbeachtet: das virtuelle Netzwerk, in dem sich der Täter bewegte. Rund 60 Ermittler der Sonderkommission zum Olympia-Einkaufszentrum sichteten über 1.000 Akten und verarbeiteten etwa 1.750 Hinweise. Dennoch gelang es nicht, die digitalen Verbindungen des Täters aufzudecken. Besonders brisant ist, dass das Bundeskriminalamt (BKA) bereits am 9. Dezember 2017 über eine Verbindung zwischen David S. und dem amerikanischen Täter William Atchison informiert war – also noch vor dem späteren Fund dieser Verbindung durch Dritte. Das zuständige Bayerische Landeskriminalamt (LKA Bayern) wurde allerdings erst am 14. Juni 2018 offiziell in Kenntnis gesetzt.

Diese Verzögerung und das mangelnde Informationsmanagement werfen ein kritisches Licht auf die Koordination zwischen den Bundes- und Landesbehörden. Obwohl das BKA nach eigenen Angaben die bayerischen Kollegen begleitete und unterstützte, wurden entscheidende Informationen nicht zeitnah weitergeleitet. Der Mythos der hochpräzisen deutschen Verwaltung wird dadurch deutlich erschüttert. Vielmehr zeigt sich ein strukturelles Behördenversagen, das zentrale Fragen nach der Transparenz, Verantwortung und Effizienz staatlicher Ermittlungsarbeit aufwirft.

Parallel dazu wurde die öffentliche Darstellung der Tat bewusst in eine bestimmte Richtung gelenkt: weg von politisch motiviertem Terrorismus, hin zu einem Einzeltäter mit psychischen Problemen. Ein spätes, von der Bayerischen Polizei in Auftrag gegebenes Gutachten sollte diese Linie untermauern. Die renommierte Gewaltforscherin Britta Bannenberg kam darin zu dem Schluss, dass David S. nicht als rechtsextremistisch einzustufen sei. Er habe keine Kontakte zu entsprechenden Gruppen gesucht, sei nicht in einschlägigen Foren aktiv gewesen und habe die Tat als Einzelner geplant. Diese Einschätzung verengte den Blick auf das eigentliche Geflecht, in dem der Täter verankert war.

Das Gutachten suggeriert, dass ein persönlicher Liebeskummer Jahre zuvor den Auslöser für die Tat geliefert habe. Eine Erklärung, die nicht nur abstrus wirkt, sondern auch den politisch-ideologischen Hintergrund vernebelt. Bannenbergs Formulierungen sind teils spekulativ und lassen die notwendige wissenschaftliche Distanz vermissen. So heißt es etwa, David S. habe die Polizei gebeten, ihn zu erschießen, da er Angst vor Schmerzen gehabt habe – ein Deutungsmuster, das Empathie für die Opfer vermissen lässt und sich stattdessen in die psychische Innenwelt des Täters einfühlt.

Die Reaktionen auf das Gutachten fielen entsprechend kritisch aus. In der Süddeutschen Zeitung wurde Bannenberg vorgeworfen, Gedanken des Täters zu interpretieren, als habe sie direkten Einblick in sein Innenleben. Auch der politische Umgang mit diesen Erkenntnissen blieb halbherzig. Die Bayerische Staatsregierung bat das Parlament um Geduld und verschob die Veröffentlichung eines endgültigen Berichts immer wieder – mit Verweis auf fehlende Rückmeldungen aus den USA. Die Zusammenarbeit mit amerikanischen Behörden bezüglich William Atchison verlief schleppend und wurde als Vorwand genutzt, um klare Aussagen über das Tatmotiv zu vermeiden.

Diese Strategie der Verzögerung und Zersplitterung diente offensichtlich dem Zweck, einen politischen Diskurs über rechten Terror zu vermeiden. Erst im Oktober 2019 – mehr als drei Jahre nach der Tat – räumten die Behörden ein, dass die rassistische und rechtsextreme Weltanschauung des Täters nicht zu ignorieren sei. Zu diesem Zeitpunkt war das öffentliche Narrativ jedoch längst geprägt – von der Darstellung eines psychisch kranken Einzeltäters, losgelöst von ideologischen Strukturen.

Was aus diesem Fall deutlich wird, ist die systematische Verharmlosung digital vernetzter rechtsextremer Gewalt. Die virtuellen Räume, in denen sich Täter wie David S. radikalisieren, bleiben allzu oft unter dem Radar der Ermittler. Auch die politischen Konsequenzen aus solchen Erkenntnissen werden verschleppt oder relativiert. Das wirft grundlegende Fragen über die Fähigkeit und den Willen staatlicher Institutionen auf, digitalen Rechtsterrorismus als das zu begreifen, was er ist: eine transnationale, vernetzte und zunehmend entgrenzte Bedrohung.

Wesentlich bleibt zu erkennen, dass die Einordnung einer Tat als „Amoklauf“ nicht von der politischen Dimension entbindet. Vielmehr ist diese Kategorie häufig ein Instrument, um strukturelle ideologische Hintergründe zu verdecken. Die Radikalisierung über das Internet, die Rezeption ideologisch motivierter Gewaltakte – wie etwa das gezielte Datum der Tat in Anlehnung an Breiviks Anschlag in Norwegen – sowie die Verbindungen zu ausländischen Tätern, sprechen eine klare Sprache. Ein Täter mag allein handeln, doch nie in einem ideologischen Vakuum.