Brenton Tarrant inszenierte sich selbst als Kämpfer gegen den sogenannten „islamischen Terrorismus“ und rechtfertigte seine mörderischen Taten unter dem Vorwand, die eigene Kultur, den Glauben und die Seele seines Volkes verteidigen zu müssen. In seinem Manifest schildert er eine tiefe persönliche Erschütterung, ausgelöst durch verschiedene Ereignisse, darunter die Anschläge in Stockholm und die französische Präsidentschaftswahl 2017, bei der er die politischen Figuren Emmanuel Macron und Marine Le Pen als Gegensätze darstellt. Dabei reflektiert sich eine typisch moderne Konfrontation: Auf der einen Seite steht für ihn der globalistische Kapitalist ohne nationale Sensibilität, auf der anderen der „furchtlose Bürger und Nationalist“, der sich gegen die Einwanderung stellt. Diese Polarisierung veranschaulicht Tarrants ideologischen Zugang und seine Radikalisierung durch die Wahrnehmung einer vermeintlichen Überfremdung, die er als „großen Austausch“ beschreibt, ein Begriff, den er aus den Werken des französischen Autors Renaud Camus übernahm.

Tarrant war nicht nur von Ideen der Identitären Bewegung beeinflusst, sondern unterstützte sie auch materiell. Er spendete Geld an deren österreichischen Sprecher Martin Sellner und unterhielt über mehrere Monate hinweg einen engen E-Mail-Kontakt mit ihm, wobei sie sich gegenseitig zu Besuchen einluden. Diese Verbindungen offenbaren, wie Netzwerke rechtsextremer Gruppen internationale Bindungen aufbauen und Radikalisierung nicht nur online, sondern auch durch persönliche Kontakte gefördert wird.

Eine besondere Facette seiner Persönlichkeit zeigt sich in seiner Reise durch Pakistan im Oktober 2018. Trotz seiner anti-muslimischen Haltung äußerte er sich überraschend positiv über das Land und seine Bewohner und hob die Schönheit der Region hervor. Diese Diskrepanz zwischen seiner Ideologie und seinem Verhalten zeigt, dass seine Radikalisierung nicht zwingend auf Hass gegenüber allen Muslimen basierte, sondern vor allem auf einer politischen und kulturellen Feindbildkonstruktion.

In Neuseeland, wo er 2017 nach Dunedin zog, lebte Tarrant zurückgezogen und ohne nennenswerte soziale Kontakte. Sein Alltag war geprägt von der Planung seiner Tat, Trainingsbesuchen und dem Erwerb von Waffen. Er zeigte kein besonderes öffentliches politisches Engagement, doch seine späteren Taten offenbarten eine tief verwurzelte, gewaltbereite Ideologie. Sein Verhalten und Auftreten erinnerten an einen Kriegsteilnehmer – eine martialische Pose, die mit seiner Faszination für religiöse Konflikte, insbesondere in Europa und auf dem Balkan, einherging. Die Verwendung von Symbolen und Namen serbischer Nationalisten auf seinen Waffen und die Auswahl entsprechender Musik bei seinem Angriff verdeutlichen, wie er historische und regionale Konflikte als Inspiration nutzte.

Tarrant setzte auf eine umfassende Propagandastrategie. Sein Manifest war in Form eines Selbstinterviews gestaltet, ähnlich wie es der norwegische Attentäter Anders Breivik praktizierte, dessen ideologische Parallelen unverkennbar sind. Durch die Verbreitung seines Tathergangs mittels Livestream im Internet versuchte er, maximale mediale Aufmerksamkeit zu erzielen. Er bezeichnete sich als „ethno-nationalistischer Öko-Faschist“ und sah sich selbst als ausgewählten Bewahrer der weißen europäischen Bevölkerung in Australien und Neuseeland. Sein Narzissmus zeigte sich auch in der selbstbezogenen Identifikation mit Nelson Mandela, einem Symbol für Freiheitskampf und Überwindung von Unterdrückung.

Die penible Planung seines Attentats über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren verdeutlicht, dass es sich nicht um eine spontane Tat, sondern um eine kalkulierte und ideologisch motivierte Aktion handelte. Dabei spielte für Tarrant auch die mediale Wirkung seiner Waffenwahl eine Rolle – er wollte die Debatte über Waffenbesitz anheizen und gesellschaftliche Gräben vertiefen.

Für das Verständnis des Phänomens Tarrant ist es wichtig zu erkennen, dass seine Radikalisierung exemplarisch für einen modernen Rechtsextremismus steht, der sich international vernetzt, ideologische Bruchlinien auf kultureller und politischer Ebene konstruiert und durch die gezielte Nutzung digitaler Medien eine breite Öffentlichkeit anstrebt. Seine Geschichte zeigt, dass solche Täter nicht immer durch einfache Charakterisierungen als „verrückt“ oder „geistig verwirrt“ erklärt werden können, sondern oft hochgradig strategisch und manipulierend agieren. Der gesellschaftliche Kontext von Polarisierung, Ängsten vor Identitätsverlust und die Wirkung sozialer Medien spielen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung solcher Gewalttaten.

Radikale Bewegungen und ihre Ideologien im Kontext moderner Gesellschaften

Die politische Landschaft in den westlichen Demokratien hat sich in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert. Insbesondere in Europa und den USA hat sich ein gefährlicher Trend manifestiert: Der Aufstieg von extrem rechten und populistischen Bewegungen, die den Diskurs in eine Richtung lenken, in der einfache Lösungen auf komplexe Probleme angeboten werden. Diese Bewegungen bedienen sich einer aggressiven Rhetorik, die Ängste schürt und die Gesellschaft in Gruppen spaltet. Die Gründe für diesen Wandel sind vielfältig und reichen von der Globalisierung über die Migrationskrise bis hin zur politischen Fragmentierung.

Die politischen Akteure, die diesen Bewegungen vorstehen, scheuen sich nicht, extreme Positionen zu vertreten. Ein Paradebeispiel hierfür ist der ehemalige US-Präsident Donald Trump. Schon während seiner Wahlkampagne bediente er sich einer Rhetorik, die in der politischen Arena als gefährlich gilt, indem er zum Beispiel islamischen Terrorismus als unmittelbare Bedrohung darstellte – unabhängig von der tatsächlichen Herkunft der Täter. Auch als Präsident setzte er seine Narrativen fort und benutzte oftmals die Medien als Sündenböcke, um von politischen Fehlern abzulenken und die öffentliche Meinung zu polarisieren. Besonders bemerkenswert ist der Vorfall, als Trump während seiner Wahlkampagne einen Terroranschlag in Schweden erfand, was einmal mehr die Manipulationskraft seiner Rhetorik verdeutlicht.

Die Ängste der Gesellschaft, insbesondere im Zusammenhang mit Migration, haben jedoch nicht nur zu einer Politisierung des Themas geführt, sondern auch zu einer Zunahme von rechtem Extremismus. In Europa, insbesondere seit der Flüchtlingskrise, gibt es eine starke Zunahme von rechtsextremen Gruppen und Bewegungen, die ihre politische Agenda mit einer Mischung aus Nationalismus, Islamophobie und fremdenfeindlicher Rhetorik vorantreiben. Der Soziologe Daniel Koehler weist darauf hin, dass die Dynamiken dieses Phänomens noch immer nicht ausreichend erforscht sind, was vor allem daran liegt, dass in der vergangenen Dekade der Fokus stark auf religiös motiviertem Extremismus lag.

In der öffentlichen Wahrnehmung sind die Sorgen hinsichtlich unkontrollierter Migration besonders ausgeprägt. Julia Ebner beschreibt drei zentrale Ängste, die in der Bevölkerung weit verbreitet sind: Erstens die Furcht vor dem Verlust eigener Perspektiven, etwa dass junge arabische Männer den Zugang zu Frauen, Arbeitsplätzen und Wohnraum blockieren könnten. Zweitens die Vorstellung, dass städtische Räume und ganze Gesellschaften islamisiert werden könnten. Und schließlich die Besorgnis über die Gefahr terroristischer Angriffe durch radikale Islamisten. Diese Ängste haben einen Nährboden für populistische Parolen geschaffen, die in der politischen Landschaft immer mehr Zustimmung finden. Es ist jedoch nicht nur die Migration, die die politische Debatte beherrscht, sondern auch die Verlagerung des Diskurses hin zu einer Skepsis gegenüber den etablierten politischen Institutionen.

Ein weiteres zentrales Merkmal dieser neuen rechten Bewegungen ist ihr radikaler Antagonismus gegenüber den politischen Eliten und der Demokratie im Allgemeinen. Die Narrative dieser Gruppen basieren oft auf dem Glauben, dass die Regierungen die Wahrheit vor der Bevölkerung verbergen und in ihrem eigenen Interesse handeln, anstatt das Gemeinwohl zu fördern. Die Medien werden als Feinde des Volkes dargestellt, die die Öffentlichkeit mit "Fake News" manipulieren. Dies führt zu einem dramatischen Verlust an Vertrauen in die Institutionen der Demokratie. Die politische Haltung dieser Bewegungen lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: Erstens die Ablehnung der etablierten politischen Eliten, zweitens die Forderung nach einem starken, autoritären Führer und drittens die Betonung des Nationalismus und Chauvinismus, wobei die Angst vor einer „Islamisierung“ Europas eine zentrale Rolle spielt.

Diese Ideologien finden immer häufiger Anklang bei Einzelpersonen, die als sogenannte „Lone Wolves“ auftreten und in Eigenregie terroristische Akte verüben. Ein Beispiel dafür ist Patrick Crusius, der Attentäter von El Paso, der in seinem Manifest die Rhetorik von Trump übernahm und die Medien als „Feinde des Volkes“ bezeichnete. Dieser Fall zeigt deutlich, wie gefährlich die Verbindung zwischen populistischer Rhetorik und extremistischen Taten sein kann. Es stellt sich die Frage, inwiefern die politische Atmosphäre, die durch eine aggressive Rhetorik und populistische Bewegungen geprägt ist, die Bereitschaft zur Radikalisierung in der Gesellschaft fördert.

Die Verbreitung solcher Ideologien wird nicht nur durch politische Akteure, sondern auch durch den digitalen Raum beschleunigt. In einer global vernetzten Welt haben soziale Medien eine Schlüsselrolle gespielt, indem sie als Plattformen für die Verbreitung von Propaganda und extremistischen Ideologien fungieren. Die Anonymität des Internets und die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden und zu mobilisieren, haben diese Entwicklungen weiter verstärkt. Der virtuelle Raum hat es den extremistischen Bewegungen ermöglicht, ihre Botschaften an ein globales Publikum zu verbreiten und gleichzeitig ein Gemeinschaftsgefühl unter den Anhängern zu schaffen. Es ist daher nicht nur die politische, sondern auch die digitale Vernetzung von Rechtsextremisten, die zu einer beispiellosen Radikalisierung geführt hat.

In diesem Zusammenhang wird die Frage aufgeworfen, inwiefern die Gesellschaft in der Lage ist, den wachsenden Herausforderungen dieser globalisierten rechten Bewegungen zu begegnen. Der Rückzug in nationalistische Denkmuster und die Ablehnung von Multikulturalismus und gesellschaftlicher Diversität scheinen Antworten auf die Unsicherheiten der globalisierten Welt zu bieten. Jedoch führt dieser Weg in eine politische Isolation, die sowohl den sozialen Frieden als auch die demokratischen Werte gefährdet.

Die Herausforderung besteht darin, eine Balance zu finden, zwischen der Wahrung der nationalen Identität und der Offenheit für eine diverse Gesellschaft. Dabei muss auch die Frage beantwortet werden, wie die politischen, gesellschaftlichen und digitalen Räume gestaltet werden können, um der Radikalisierung entgegenzuwirken und den populistischen Bewegungen etwas entgegenzusetzen. Ohne ein fundiertes Verständnis der Dynamiken, die diese Bewegungen antreiben, wird es kaum möglich sein, nachhaltige Lösungen zu finden, die sowohl die Ängste der Bevölkerung berücksichtigen als auch die Prinzipien einer offenen, demokratischen Gesellschaft wahren.

Wie entstehen und wirken antisemitische Verschwörungstheorien und welche Gefahr geht von der „Reichsbürger“-Bewegung aus?

Antisemitische Verschwörungstheorien erleben in der heutigen globalisierten und digitalisierten Welt eine neue Blütezeit. Berühmte Superreiche wie Bill Gates, Warren Buffet oder George Soros werden dabei als Symbolfiguren einer finsteren, angeblich weltumspannenden Machtelite dargestellt. Die Kritik am Kapitalismus und der Globalisierung wird häufig vermischt mit alten antisemitischen Klischees von einer „jüdischen Weltverschwörung“, die sich besonders an Finanzinstitutionen an der Ostküste der USA oder an der Wall Street manifestieren soll. Solche Theorien greifen historische Erzählungen auf, die bis in das Programm der NSDAP reichen, wie etwa die sogenannte „Zinsknechtschaft“. Die antisemitische Tradition ist nicht nur historisch, sondern auch heute noch aktuell und wirksam, nicht zuletzt in terroristischen Anschlägen wie jenem in Oklahoma City 1995.

Im extrem rechten Milieu der USA ist das Narrativ von einer „Zionistischen Besatzungsregierung“ (ZOG) verbreitet, womit die Washingtoner Regierung gemeint ist. Quellen wie die „Turner Diaries“ bilden eine Grundlage für solche Ideologien, die mit unzähligen Abkürzungen, Anspielungen und Codes, oft mit NS-typischen Stereotypen von „reichen, gierigen Juden“, im Internet zirkulieren. Bezeichnungen wie „USrael“ oder „NWO“ (New World Order) verweisen auf vermeintliche jüdische Herrschaft und greifen die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ auf. Seit dem 11. September 2001 bis hin zur aktuellen Flüchtlingskrise erleben diese Verschwörungstheorien eine rasante Verbreitung und werden in sozialen Netzwerken massenhaft geteilt. Sie bieten einfache Antworten auf komplexe Zusammenhänge und ermöglichen es, Schuldige für gesellschaftliche Probleme zu benennen, was vielen Menschen eine neue Identität und Zugehörigkeit verschafft.

Dabei sind solche Theorien häufig gezielt gesteuert und Teil von Desinformationskampagnen, etwa durch den russischen Staat. Die Effizienz solcher Strategien wurde besonders während des Ukraine-Krieges und der Annexion der Krim deutlich. Russische Medien wie „Russia Today“ und „Sputnik“ verbreiten Propaganda, unterstützt von rechtsextremen Parteien in Europa, die als „nützliche Idioten“ agieren. Die Zusammenarbeit zwischen Putin-Russland und europäischen Rechtsradikalen manifestierte sich beispielsweise im umstrittenen Krim-Referendum 2014, das von Wahlbeobachtern rechter Parteien legitimiert wurde. Solche Netzwerke sind eng verflochten und tragen durch die Verbreitung von Verschwörungstheorien zur Radikalisierung und Spaltung der Gesellschaft bei.

Ein anschauliches Beispiel für die Wirkung manipulativer Propaganda war die Berichterstattung über einen angeblichen sexuellen Übergriff auf ein russisch-deutsches Mädchen in Berlin 2016, die sich später als frei erfunden herausstellte. Dennoch glaubten viele Russischstämmige der Desinformation und gingen auf die Straße. Diese Strategie der Destabilisierung ist eine perfide Form der gezielten gesellschaftlichen Spaltung, die langfristig auf die Schwächung des Westens abzielt.

Im Zusammenhang mit der Verbreitung von Verschwörungstheorien ist auch die sogenannte „Reichsbürger“-Bewegung zu nennen. Diese Gruppierung, die in Deutschland inzwischen mehr als 18.000 Anhänger zählt, glaubt, dass die Bundesrepublik Deutschland kein legitimer Staat, sondern eine Firma („BRD GmbH“) sei, und erkennt das Deutsche Reich als fortbestehend an. Sie lehnen staatliche Autoritäten, Gesetze und Steuerzahlungen ab. Anfangs unterschätzt, rückt die Bewegung seit einem tödlichen Zwischenfall 2016 in den Fokus von Sicherheitsbehörden. Der Schütze Wolfgang Plan tötete einen Polizisten bei einem Einsatz gegen die „Reichsbürger“. Seitdem häufen sich Berichte über Gewaltakte aus dieser Szene, die nun als ernsthafte Bedrohung eingestuft wird.

Das Auftreten der „Reichsbürger“ mag auf den ersten Blick skurril wirken, mit selbstgestalteten Ausweisen und Verkehrsschildern, doch dahinter verbirgt sich eine organisierte und aggressive Ablehnung des demokratischen Rechtsstaats. Der Begriff „Papier-Terrorismus“ beschreibt die Überflutung von Behörden mit falschen Dokumenten und Anträgen, die Verwaltungsstrukturen lähmen sollen. Intelligenzbehörden warnen vor der Gefahr, dass sich hinter dieser Szene einzelne Akteure mit terroristischer Motivation verbergen könnten. Diese Bewegung ist daher kein harmloses Randphänomen, sondern eine ernsthafte Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die staatliche Ordnung.

Die Verbreitung von Verschwörungstheorien und das Erstarken von Bewegungen wie den „Reichsbürgern“ verdeutlichen, wie sich tiefsitzendes Misstrauen, Unsicherheit und das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen in gefährliche Ideologien verwandeln können. Es ist entscheidend zu verstehen, dass solche Erzählungen oft bewusst manipuliert werden und Instrumente geopolitischer Einflussnahme sind. Gleichzeitig spiegeln sie eine gesellschaftliche Krise wider, in der viele Menschen Orientierung und Vertrauen verloren haben.

Wichtig ist es, die Komplexität der Ursachen für die Verbreitung von Verschwörungstheorien zu begreifen: Globalisierung führt zu Entfremdung und einem Verlust an nachvollziehbaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Suche nach Sündenböcken bietet eine scheinbar klare Antwort auf diffuse Ängste und das Gefühl der Machtlosigkeit. Außerdem bieten diese Ideologien eine Identitätsstiftung und das Gefühl, Teil einer besonderen Gemeinschaft zu sein. Der Umgang mit diesem Phänomen erfordert daher nicht nur Sicherheitsmaßnahmen, sondern auch Bildung, gesellschaftlichen Dialog und den Aufbau von Vertrauen in demokratische Institutionen.

Wie wurde rechtsextreme Gewalt im Fall David Sonboly unterschätzt und welche Rolle spielen virtuelle Plattformen?

Im Fall David Sonboly zeigt sich eine erschreckende Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Ausmaß rechtsextremer Bedrohungen und der Wahrnehmung offizieller Stellen. Während die Ermittlungsbehörden in Deutschland oftmals als vorbildlich gelten, wurde die Gefahr von rechtsextremen Netzwerken, die sich in virtuellen Räumen wie Foren oder Gaming-Plattformen bewegen, massiv unterschätzt. Obwohl zahlreiche professionelle Ermittler aktiv waren, nahm man das Forum Steam fälschlicherweise als harmlosen Ort für gewaltverherrlichende Videospiele wahr, ohne die tatsächlichen Gefahren rechter Ideologien zu erkennen, die sich dort zunehmend vernetzen und radikalisieren. Besonders auffällig ist, dass den deutschen Behörden bekannt war, dass Sonboly seinen E-Mail-Account bei dem amerikanischen Konzern Yahoo.com hatte, doch es unterblieb die notwendige Informationsanfrage in den USA.

Die Ignoranz gegenüber rechtsextremer Gewalt zeigt sich nicht nur in der Praxis, sondern auch in der politischen Rhetorik. Der Bayerische Innenminister Joachim Herrmann etwa leugnete trotz gegenteiliger Hinweise die rechtsextreme Motivation Sonbolys mit der Begründung, dass keine offiziellen Parteizugehörigkeiten vorlägen. Dies steht im krassen Gegensatz zur Polizeischulung, die berücksichtigt, dass Rechtsextremismus auch ohne formelle Organisationsmitgliedschaft entstehen kann. Der Fall Sonboly verdeutlicht, dass rechtsextremistische Gewalt nicht nur von organisierten Gruppen, sondern zunehmend von Einzeltätern oder kleinen, lose vernetzten Zellen ausgeht – ein Phänomen, das in EUROPOL-Berichten zwar thematisiert wird, den Täter Sonboly aber unerwähnt lässt.

Das Selbstverständnis vieler Behörden basiert noch immer auf veralteten Vorstellungen aus den 1980er und 1990er Jahren, wonach militante Rechte nur aus traditionellen Skinhead- oder Kameradschaftsszenen hervorgehen. Diese Sichtweise übersieht die wachsende Subkultur in Nischen digitaler Plattformen, die geprägt ist von militantem, international vernetztem und rassistischem Hass. Diese neue Generation von Rechtsextremisten nutzt das Internet als virtuellen Raum zur Rekrutierung, Radikalisierung und Vernetzung – eine Entwicklung, die in Teilen der Behörden noch nicht ausreichend erkannt oder bekämpft wird.

Die Rolle großer sozialer Medienplattformen ist ambivalent. Twitter, Facebook und Co. besitzen das Recht, Nutzerkonten zu sperren oder zu löschen und haben unter dem Druck der Europäischen Union begonnen, gegen extremistisches Material vorzugehen. Facebook etwa setzt automatisierte Software zur Erkennung extremistischer Inhalte ein und hat erstmals eine eigene Definition von „Terrorismus“ veröffentlicht, die jedoch Einzelakteure ausklammert und sich auf Gruppen bezieht. Dies wirft die Frage auf, wie Einzelpersonen wie Sonboly effektiv erfasst und bekämpft werden können, wenn die Plattformen vorrangig kollektive Bedrohungen adressieren.

Die Aussagen von Mark Zuckerberg, Facebook müsse auch kontroverse, teils falsche Meinungen zulassen, weil Menschen nicht absichtlich irren, unterstreichen die Schwierigkeiten der Selbstregulierung. Trotz internationaler Initiativen wie dem Christchurch Call, der auf die Eliminierung von Online-Extremismus abzielt, zeigt sich insbesondere die Haltung der USA kritisch: Aus Verfassungsgründen verweigert die US-Regierung eine formelle Unterstützung, was die Umsetzung wirksamer Maßnahmen erschwert. Dabei sind die USA Heimat vieler großer Plattformen, deren Einfluss global ist. Die fehlende einheitliche und klare Strategie erschwert eine wirksame Bekämpfung digitaler rechtsextremer Vernetzungen erheblich.

Die aktuelle Debatte in den USA um rechtsextreme Netzwerke wie die „Atomwaffen Division“ verdeutlicht, wie prekär die Lage ist und wie unzureichend die Selbstregulierung der Plattformen tatsächlich funktioniert. Die Herausforderung besteht darin, dass rechte Gewalt heute in virtuellen Räumen floriert, die vermeintlich harmlos oder nur spielerisch erscheinen, aber zugleich zu gefährlichen sozialen Räumen für Radikalisierung werden. Die Entwicklung zeigt, dass es keineswegs genügt, sich auf traditionelle Muster von politischem Extremismus zu verlassen, sondern dass ein tiefgreifendes Verständnis der digitalen Dimensionen der Radikalisierung notwendig ist.

Wichtig ist darüber hinaus zu erkennen, dass rechtsextreme Gewalt sich zunehmend von der klassischen Parteimitgliedschaft und organisatorischer Bindung löst. Einzelpersonen mit vielfältigen sozialen Hintergründen, teilweise selbst mit Migrationsgeschichte, können sich radikalisieren und Gewalttaten verüben. Die gesellschaftliche Debatte und die polizeiliche Arbeit müssen sich daher mit der Vielschichtigkeit und der Dynamik des Phänomens auseinandersetzen, anstatt sich auf starre Definitionen zu verlassen.

Ebenso muss berücksichtigt werden, dass das Internet und die sozialen Medien nicht nur Gefahrenquellen sind, sondern auch Potenziale für Prävention und Aufklärung bieten. Eine kritische Auseinandersetzung mit algorithmischen Mechanismen, die Hass und Gewalt fördern können, ist notwendig. Nur durch eine umfassende, international abgestimmte Strategie, die technische, politische und gesellschaftliche Ebenen verbindet, kann die Gefahr von rechtsextremer Gewalt in der digitalen Welt wirksam bekämpft werden.