Die Ermittlungen rund um die Morde von Jack the Ripper werfen viele Fragen auf, von denen eine der faszinierendsten die ist, ob der Mörder ein medizinisches Fachwissen besaß. Die Autopsien der Opfer, wie auch die Einschätzungen von Dr. Phillips, einem der leitenden Ärzte, der den Fall untersuchte, deuten darauf hin, dass der Mörder über beträchtliche anatomische Kenntnisse und chirurgische Fähigkeiten verfügte. Die Theorie, dass Jack the Ripper ein Arzt war, hat sich daher als besonders langlebig herausgestellt und bietet ein tiefgehendes Verständnis der Mordmethoden, die zu dieser Zeit weit über das hinausgingen, was die allgemeine Bevölkerung für möglich gehalten hätte.

Ein zentrales Element dieser Theorie ist die ungewöhnliche Präzision der Schnitte, die bei den Opfern vorgenommen wurden. Bei der Obduktion von Annie Chapman stellte Dr. Phillips fest, dass die Schnitte an ihrem Hals sehr sauber und methodisch gesetzt waren, als ob sie mit einem chirurgischen Messer vorgenommen worden wären. Besonders bemerkenswert war, dass die Wunden bis zum Rücken des Opfers reichten, was darauf hindeutet, dass der Mörder versuchte, den Kopf von der Wirbelsäule zu trennen, ein Vorgehen, das nur jemand mit tiefem anatomischen Wissen hätte wählen können. Auch die Tatsache, dass bestimmte Körperteile, wie der Anus, nicht verletzt wurden, lässt vermuten, dass der Mörder genau wusste, welche Strukturen er meiden musste, um keine ungewollten Schäden zu verursachen.

Ein weiterer interessanter Punkt war die Beobachtung von Dr. Phillips, dass es keine Hinweise auf größere Mengen Flüssigkeit im Magen von Annie Chapman gab, was darauf hindeutete, dass sie in den Stunden vor ihrem Tod keinen Alkohol konsumiert hatte. Die genaue Ermittlung des Todeszeitpunkts war jedoch ein Problem, da die Rigor mortis (Totenstarre) zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig eingesetzt war und somit nur eine grobe Schätzung des Zeitpunkts möglich war. Dr. Phillips nahm an, dass Annie Chapman etwa zwei Stunden vor seiner Untersuchung gestorben sein musste, was die Zeitspanne auf etwa 4:30 Uhr morgens festlegte.

Die Frage nach der Zeit des Todes wird noch weiter verkompliziert durch Zeugenaussagen, die sich auf verschiedene Uhren und Zeitangaben stützen. So berichteten Zeugen wie Albert Cadosch und Elizabeth Long von unterschiedlichen Zeitpunkten, zu denen sie die Opfer gesehen haben wollten. Besonders Cadoschs Beobachtungen werfen Zweifel auf, da er Annie Chapman nach 5:30 Uhr in der Nähe des Tatorts gesehen haben wollte, was mit den autopsiebasierten Schätzungen der Todeszeit nicht übereinstimmt.

Doch nicht nur die physischen Beweise, sondern auch das Verhalten des Täters werfen Fragen auf. Die Präzision, mit der die Morde ausgeführt wurden, und die offensichtliche Eile, mit der der Mörder vorgehen musste, um nicht entdeckt zu werden, sprechen für einen Täter, der nicht nur über das nötige Wissen, sondern auch über eine gewisse Erfahrung in der Durchführung solcher Verbrechen verfügte. Die Morde wurden in einem Zustand schlechter Sicht und unter enormem Druck begangen, was die Theorie eines medizinischen Fachmanns, der möglicherweise ein chirurgisches Ziel verfolgte, weiter stützt.

Annie Chapmans Leichnam wurde nach der Obduktion in das Whitechapel-Mortuary gebracht, wo er unter der Aufsicht von Robert Mann gelagert wurde. Inzwischen hatten sich Berichte in den Zeitungen verbreitet, die sowohl Sensationslust als auch Frustration in der Bevölkerung hervorriefen. Insbesondere die Tatsache, dass bei jedem neuen Mord immer mehr Fragen und immer weniger Antworten aufkamen, trug zur Zunahme von Spekulationen über den Mörder bei.

Wichtig ist zu verstehen, dass die medizinische Analyse von Dr. Phillips und anderen Experten zur Zeit des Mordes nicht nur den Fall selbst, sondern auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Verbrechen und deren Aufklärung prägte. Der Glaube, dass ein Arzt hinter den Morden stecken könnte, gab dem Fall eine zusätzliche Dimension und verstärkte die Sensationslust der Öffentlichkeit.

Die Theorie eines Arztes als Täter ist auch vor dem Hintergrund der damaligen gesellschaftlichen Normen von Interesse. Ärzte genossen in viktorianischen Zeiten hohes Ansehen, und die Vorstellung, dass jemand aus den oberen Schichten der Gesellschaft solch entsetzliche Taten begehen könnte, schockierte die Öffentlichkeit zutiefst. Diese Schockwellen haben den Fall bis heute zu einem der bekanntesten ungelösten Rätsel der Kriminalgeschichte gemacht.

Neben der medizinischen Expertise des Mörders ist es auch entscheidend, die Bedingungen zu verstehen, unter denen diese Verbrechen stattfanden. Die Armut und die düsteren Lebensverhältnisse in den Slums von Whitechapel, gepaart mit der sozialen Unruhe und der prekären Lage vieler Frauen, die sich in der Prostitution verdingten, waren der Nährboden für das Entstehen solcher Verbrechen. Die Tatsache, dass die Polizei lange Zeit nicht in der Lage war, den Täter zu fassen, und dass die Medien oft mehr an der Sensation als an der Aufklärung interessiert waren, trugen ebenfalls dazu bei, dass die Identität von Jack the Ripper bis heute ein ungelöstes Mysterium bleibt.

Wie lässt sich die Nachtszene in Berner Street zum Zeitpunkt des Verbrechens rekonstruieren?

In den frühen Morgenstunden wird die Berner Street von einer Reihe von Zeugen beschrieben, deren Berichte ein Bild der ruhigen und dunklen Szenerie zeichnen, in der ein Verbrechen geschah, das die Nachbarschaft erschütterte. Louis Stansley, ein Clubmitglied, betrat die Straße, bemerkte jedoch keine verdächtigen Personen oder ungewöhnliche Ereignisse, was durch die Dunkelheit und die Schatten erklärt wird, die eine mögliche Präsenz verdecken konnten. Ähnlich schilderte Charles Letchford, ein junger Bewohner der Straße, dass „alles wie gewöhnlich“ wirkte – ein Ausdruck, der aus zeitgenössischen Presseberichten entnommen ist und darauf hinweist, dass nichts Auffälliges passierte.

Die Wahrnehmungen von Anwohnern und Passanten bieten ein weiteres Mosaikstück der damaligen Nacht. Joseph Lave, ein amerikanischer Fotograf und Drucker, der vor kurzem in London angekommen war, entkam einer rauchgefüllten Etage im Gebäude und fand die Straße still vor. Auch er erwähnt keine Begegnungen mit anderen Personen, die auf etwas Ungewöhnliches hindeuten könnten. James Brown, ein weiterer Zeuge, beobachtete auf seinem kurzen Weg vom Lebensmittelgeschäft zurück nach Hause ein Paar an der Wand der Board School. Die Frau, vermutlich Elizabeth Stride, verweigerte dem Mann eine Begegnung mit den Worten „Nicht heute Nacht, ein andermal“, während der Mann in einem langen Mantel, der bis zu den Fersen reichte, gegen die Wand gelehnt stand. Trotz der Dunkelheit und Browns Unklarheit über Details wird die Erscheinung dieser beiden als bedeutsam angesehen, da sie in zeitlicher Nähe zum Tatort standen.

Ein besonders wichtiger, jedoch vor dem Inquest nicht vernommener Zeuge war Fanny Mortimer, die in der Nähe wohnte und behauptete, eine Weile an ihrer Haustür gestanden zu haben. Während dieser Zeit sah sie lediglich einen jungen Mann mit einer schwarzen Tasche, der die Berner Street entlangging. Ihre Beobachtungen korrespondieren mit den spärlichen Bewegungen auf der Straße kurz vor der Tatzeit. Auch die Geräusche einer vorüberfahrenden Ponykarre und das Klirren des Regens prägen die Atmosphäre dieser Nacht, die von einer unheilvollen Stille durchzogen ist.

Matthew Packer, der Inhaber eines kleinen Ladens, veränderte seine Aussagen mehrfach und wirkte dabei unzuverlässig. Er behauptete, wegen des Regens früh geschlossen zu haben und keine verdächtigen Personen gesehen zu haben. Seine Berichte wurden von der Polizei als wenig glaubwürdig eingestuft, doch sie illustrieren die Schwierigkeiten der Ermittlungen in einem Umfeld, in dem viele Informationen ungenau oder widersprüchlich sind. Interessanterweise stellte Dr. Blackwell bei der Untersuchung des Opfers fest, dass deren Kleidung nicht nass war, was Packer’s Behauptung eines langen Aufenthalts im Regen zumindest teilweise widerspricht.

Ein weiterer Zeuge, Israel Schwartz, der mit seiner Frau in der Nähe wohnte, beobachtete um 0:45 Uhr einen Mann und eine Frau nahe der International Working-Men’s Education Society. Der Mann versuchte, die Frau gewaltsam aus dem Blickfeld zu ziehen, was jedoch misslang. Diese Begegnung blieb bei der offiziellen Untersuchung weitgehend unbeachtet, obwohl sie wichtige Einblicke in das Geschehen geben könnte.

Zusammengenommen vermitteln diese Berichte ein Bild von einer Nacht, in der die Straßen zwar ruhig erschienen, doch unter der Oberfläche Spannungen und verborgene Begegnungen stattfanden. Die Dunkelheit, der Regen und die spärliche öffentliche Präsenz erschwerten die Wahrnehmung und Erkennung der Ereignisse. Die Aussagen der Zeugen sind oft fragmentarisch und von Unsicherheiten geprägt, was die Rekonstruktion der Geschehnisse umso komplexer macht.

Darüber hinaus sollte beachtet werden, dass die sozialen und räumlichen Bedingungen jener Zeit – beengte Wohnverhältnisse, das Leben in überfüllten Lodgings und die häufige Anwesenheit von Wanderarbeitern und Zugezogenen – das Umfeld prägten, in dem sich das Verbrechen zutrug. Diese Umstände erschwerten nicht nur die Ermittlung, sondern trugen auch zur Unsichtbarkeit vieler sozialer Konflikte bei, die sich nachts in den dunklen Gassen abspielten.

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Warum Michael Ostrog als Jack the Ripper Verdächtiger ausscheidet

Michael Ostrog, ein russischer Krimineller, dessen Name nach seiner Verhaftung 1891 in die Ermittlungen zum Fall Jack the Ripper aufgenommen wurde, ist heute eine der weniger bekannten, aber dennoch faszinierenden Figuren in der langen Reihe von Verdächtigen. Trotz seines unrühmlichen Rufes als Dieb und seiner problematischen psychischen Verfassung, gibt es wenig Beweise, die Ostrog als den berüchtigten Mörder in den dunklen Gassen von Whitechapel identifizieren würden.

Ostrog war bekannt für seine kriminellen Aktivitäten, die ihn wiederholt ins Gefängnis brachten. Nach einer Haftstrafe von fast zehn Jahren für geringfügige Diebstähle, wie das Stehlen einiger Bücher und eines silbernen Bechers im Wert von weniger als fünf Pfund, wurde er 1883 aus dem Gefängnis entlassen. Im Jahr 1887, nur wenige Jahre später, tauchte er erneut als Dieb auf, als er einen Metallkrug von der Royal Military Academy in Woolwich stahl. Es war bei diesem Diebstahl, als er in einen kurzen Verfolgungsjagd verwickelt wurde, die ihn zu einer erneuten Verhaftung führte. Doch anstatt sich durch gewaltsame Taten hervorzuheben, war Ostrog eher durch seine kleinen, aber wiederkehrenden Vergehen bekannt.

Ein besonders aufschlussreiches Ereignis in seiner Laufbahn war seine Einweisung in das Banstead Lunatic Asylum, nachdem er von einem Gericht als geistig instabil eingestuft wurde. In der Anstalt wurde er als suizidgefährdet, aber nicht als gefährlich für andere beschrieben. Es ist bemerkenswert, dass Melville Macnaghten, ein hochrangiger Polizeibeamter, besonderen Wert auf Ostrogs medizinische Betreuung legte und darauf bestand, dass die Polizei benachrichtigt wird, falls er entlassen wird. Ostrog wurde 1893 wieder freigelassen, kehrte aber schnell in seine kriminellen Gewohnheiten zurück und verbüßte erneut mehrere Haftstrafen.

Trotz seiner wiederholten Verhaftungen und seines langjährigen Daseins als kleiner Krimineller gibt es keinen Hinweis darauf, dass Ostrog in irgendeiner Weise für die grausamen Morde von Jack the Ripper verantwortlich gewesen sein könnte. Besonders auffällig ist, dass er keine bekannten Gewalttaten gegenüber Frauen beging, was ihn aus der Liste potenzieller Verdächtiger ausschließt, da die Ripper-Morde eindeutig Frauen zum Ziel hatten.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist Ostrogs Aufenthaltsort und seine Bewegungen während der Mordserie in London. Es gibt Berichte, dass er sich zwischen 1888 und 1890 in Frankreich aufhielt, wo er unter einem seiner vielen Aliasnamen verhaftet und inhaftiert wurde. Diese Zeit überschneidet sich mit den entscheidenden Jahren der Jack the Ripper-Morde. Ostrog war während des gesamten Mordzeitraums entweder in Haft oder verließ Großbritannien, was es höchst unwahrscheinlich macht, dass er an den Morden beteiligt war.

Ostrog selbst scheint während der Jahre, in denen die Morde verübt wurden, kein Interesse an brutalen Verbrechen oder an Frauenmorden gehabt zu haben. Es scheint auch unplausibel, dass ein Mann, der so wiederholt mit Diebstählen und kleineren Vergehen in Erscheinung trat, plötzlich zu einem Serienmörder geworden wäre. In den Akten finden sich keinerlei Hinweise darauf, dass er in irgendeiner Form mit den Methoden oder Motiven des Mörders in Verbindung stand.

Trotz all dieser Hinweise auf seine Unschuld in Bezug auf die Jack the Ripper-Morde, wurde Ostrog von einigen Ermittlern als Verdächtiger in Betracht gezogen. Dies ist jedoch eher der Folge von Spekulationen und der Tendenz, bekannte Kriminelle in die Mördererzählungen einzubeziehen, anstatt auf harten Beweisen zu basieren. Ein journalistischer Artikel in der „Police Gazette“ beschrieb Ostrog als „schlauen Kopf mit guter Ausbildung und gepflegten Manieren“, der sicherlich in einer ehrlichen Karriere erfolgreich hätte sein können, aber dennoch als „harter Verbrecher“ bezeichnet wurde. Diese Darstellung von Ostrog als gefährlichem, aber harmlosen Kriminellen passte gut in das Bild eines Verdächtigen für die Morde, auch wenn es keine tatsächlichen Beweise für eine Verbindung zwischen ihm und den Ripper-Morden gab.

Die entscheidende Frage bei der Untersuchung von Ostrog ist nicht nur, was er getan hat, sondern auch, wie er in die Ermittlungen aufgenommen wurde. Es gab zu viele Verdächtige und zu viele Theorien über den wahren Täter, und in einem Fall wie diesem, in dem das öffentliche Interesse so groß war, neigen Ermittler und Journalisten dazu, die Grenze zwischen tatsächlichen Beweisen und bloßen Verdachtsmomenten zu verwischen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Ermittlungen rund um die Jack the Ripper-Morde nicht nur durch die grausamen Taten des Täters, sondern auch durch die Spekulationen, die sich um seine Identität rankten, geprägt wurden. Namen wie Ostrog, Chapman und andere wurden immer wieder ins Spiel gebracht, nicht weil es solide Beweise gab, sondern weil die Öffentlichkeit nach einer Erklärung für die unheimlichen Verbrechen verlangte. Während es heute viele Theorien gibt, die den Täter als jemanden mit medizinischen Kenntnissen oder als psychisch gestörten Einzelgänger darstellen, bleibt der wahre Mörder, wie so viele andere Kriminalfälle dieser Zeit, ein ungelöstes Rätsel.

Warum Walter Sickert nicht Jack the Ripper war

Im Jahr 2002 sorgte die Kriminalautorin Patricia Cornwell weltweit für Aufsehen, als sie in ihrem Buch Portrait of a Killer – Jack the Ripper Case Closed Walter Sickert als den wahren Täter der Whitechapel-Morde präsentierte. Cornwell behauptete, 100 Prozent sicher zu sein, dass Sickert für diese grausamen Verbrechen verantwortlich war. Ihr Ansatz basierte auf der Anwendung moderner forensischer Techniken, insbesondere der Untersuchung von DNA, die angeblich mit der Jack the Ripper-Korrespondenz in Verbindung gebracht werden konnte.

Cornwells Theorie stellt die Kindheit des Künstlers in den Mittelpunkt. Sie argumentiert, dass Sickert durch mehrere schmerzhafte Kindheitsoperationen, die seine Männlichkeit beeinträchtigten, zu einem pathologischen Hass auf Frauen entwickelt wurde. Dies sei die treibende Kraft hinter den Morden gewesen. Doch diese Annahme wurde schnell von mehreren Experten in Frage gestellt. St. Mark’s Hospital, das laut Cornwell die Operationen durchgeführt haben soll, war auf die Behandlung von Rektalfisteln spezialisiert und nicht auf Geschlechtsfisteln. Darüber hinaus gibt es Berichte, die darauf hinweisen, dass Sickert verheiratet war und in einer Vielzahl von Affären lebte, was eine Diagnose der Impotenz eher unplausibel erscheinen lässt.

Cornwell beruft sich zudem auf Sickerts Gemälde, die angeblich durch den Mord an der Prostituierten Emily Dimmock inspiriert wurden. Sie behauptet, diese Werke würden auffällige Ähnlichkeiten mit den post-mortem-Fotos der Opfer von Jack the Ripper aufweisen. Diese künstlerische Vorliebe für das Thema Mord und Gewalt macht ihn jedoch nicht zu einem Mörder. Sickert war zwar in der Darstellung von Bedrohung und Gewalt versiert, aber das beweist keineswegs seine Schuld an den Whitechapel-Morden.

Ein weiteres schwerwiegendes Problem mit Cornwells Theorie ist, dass Sickert möglicherweise nicht einmal in England war, als die Morde stattfanden. Es gibt Berichte von Familienmitgliedern, die bestätigen, dass Sickert während der Tatzeiten in Frankreich weilte. Die mutmaßliche Verknüpfung von Sickert mit den Morden stellt sich daher als schwer überprüfbar heraus.

Zudem behauptet Cornwell, dass Sickert für die meisten der Jack the Ripper-Briefe verantwortlich war. Sie verweist auf mehrere Briefe, von denen sie überzeugt ist, dass sie von ihm verfasst wurden. Doch Experten sind sich einig, dass keine dieser Briefe tatsächlich vom Mörder stammte. Die bekannteste Korrespondenz, der „Dear Boss“-Brief, wird allgemein als Fälschung betrachtet, die dazu diente, die Ermittlungen in die Irre zu führen. Die Variabilität in Grammatik, Rechtschreibung und Handschrift deutet darauf hin, dass diese Briefe von verschiedenen Personen geschrieben wurden, was die Annahme, dass sie alle von einem einzigen Täter stammen, sehr unwahrscheinlich macht.

Cornwell finanzierte zudem DNA-Tests auf den Briefen und Briefmarken, die sie für von Sickert stammend hielt, um die Theorie eines Zusammenhangs zwischen Sickert und den Morden zu stützen. Es wurde ein möglicher Treffer mit der DNA auf einem Brief aus der „Dr. Openshaw“-Korrespondenz festgestellt. Allerdings wurde diese Entdeckung stark angezweifelt, da die verwendete Mitochondrien-DNA von so vielen Menschen geteilt werden kann, dass sie keine schlüssige Identifizierung ermöglicht.

Sickert selbst war ein bekannter Künstler, der eine sehr komplexe Beziehung zur Gesellschaft pflegte, die bis heute Rätsel aufgibt. Einige behaupten, er habe in einem Zimmer in London gewohnt, das einst von Jack the Ripper bewohnt worden sei. Die Geschichte, dass Sickert von seiner Vermieterin über die mysteriöse Identität des früheren Mieters informiert wurde, der während seiner nächtlichen Ausflüge angeblich seine Kleidung verbrannte, ist Teil der Legendenbildung um die Ripper-Theorie. Doch auch diese Erzählung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.

Es gibt schließlich noch die praktische Frage, ob es tatsächlich Sinn macht, einen derart komplexen Fall zu einer Einzelperson zuzuordnen. Die Whitechapel-Morde sind nicht nur ein historisches Mysterium, sondern auch ein kulturelles Phänomen, das sich über die Jahre immer weiter verzweigte. Während viele Autoren, darunter auch Patricia Cornwell, Theorien aufstellen, bleibt die Antwort auf die Frage nach dem wahren Mörder von Jack the Ripper weitgehend unbeantwortet.

Wichtig ist jedoch, dass die heutige Wahrnehmung von Jack the Ripper oft durch ein stark idealisiertes Bild geprägt ist, das sich eher an modernen Konzepten von Serienmördern orientiert als an den tatsächlichen Ereignissen. Die Morde sind mehr als nur das Werk eines Einzelnen; sie sind ein Produkt der sozialen und politischen Zustände des viktorianischen Londons, das von Armut, Ungleichheit und Gewalt geprägt war. Die Faszination für den Fall beruht nicht nur auf der Frage, wer der Mörder war, sondern auch auf der dunklen Spiegelung einer Ära, die selbst in vielerlei Hinsicht das „Monströse“ hervorgebracht hat.

War Emma Smith das erste Opfer von Jack the Ripper?

Frederick Mocatta und der Politiker Samuel Montagu gründeten eine Gesellschaft mit der Mission, menschenwürdige und gesunde Unterkünfte für die Arbeiterklasse zu schaffen. Das Geld für dieses Vorhaben wurde durch die Garantie eines vierteljährlichen Rückflusses von 4 Prozent an die Investoren aufgebracht, was dem Unternehmen seinen Namen gab. Im Jahr 1883 wurde die westliche Seite der George Street abgerissen, und vier Jahre später entstanden die Charlotte De Rothschild Dwellings und die Lolesworth Buildings. Dies führte zu einer westlichen Erweiterung der Thrawl Street, die nun die Commercial Street erreichte. Die Armenhäuser auf der östlichen Seite der George Street blieben bis Anfang der 1890er Jahre bestehen, als die Straße in Lolesworth Street umbenannt wurde. Der Bau von Ruth und Helena Houses zwischen 1895 und 1897 sowie von Keate und Spencer Houses im Jahr 1908 beseitigte schließlich die Slums. Diese Gebäude wurden jedoch zwischen 1973 und 1980 abgerissen, und mit dem Bau des Flower and Dean Estate zwischen 1982 und 1984 verschwand die ehemalige George Street vollständig.

Am Ostermontag 1888, dem 2. April, war das Wetter noch winterlich. Der Himmel war trüb, schwer und bewölkt, und der drohende Regen trübte die Stimmung am Morgen. Am Nachmittag setzte ein leichtes Nieseln ein, begleitet von einem eisigen Nordwestwind, der den Aufenthalt im Freien unangenehm machte. Als die Dunkelheit hereinbrach, sank die Temperatur nur knapp über den Gefrierpunkt, und gelegentliche Schneeflocken fielen. Doch Emma Smith ließ sich von dem schlechten Wetter nicht abhalten, und sie machte sich auf den Weg. Wahrscheinlich besuchte sie einige Pubs – es wurde später behauptet, dass sie getrunken hatte –, die von betrunkenen und lärmenden Menschen belebt waren, deren Schreie und Torkeln die Straßen in jener Nacht zu einem unheimlichen Ort machten.

Emma Smith wurde von ihrer Freundin und Mitbewohnerin Margaret Hayes gesehen, die selbst eine raue Nacht hinter sich hatte. Die Zeugin berichtete, dass sie Emma an der Ecke von Burdett Road und Farrance Street traf, wo sie mit einem Mann in einem dunklen Anzug und einem weißen Schal sprach. Die beiden gingen in Eile weiter, und Hayes schenkte dem Paar keine große Aufmerksamkeit. Emma Smith, die offensichtlich in Not war, weigerte sich, ins Krankenhaus zu gehen, und es wird spekuliert, dass sie aus Angst vor den autoritären Institutionen und den schlechten Erfahrungen der Bevölkerung zögerte. Trotz ihrer schlimmen Verletzungen und der offensichtlichen Dringlichkeit brauchte es noch mehrere Stunden, um den Weg von 275 Metern zu ihrem Heim in der George Street zurückzulegen. Niemand sah sie auf ihrem Weg.

In den frühen Morgenstunden des 3. April 1888, um etwa 1:30 Uhr, war Emma Smith auf dem Weg nach Hause und hatte die Whitechapel Church erreicht, als sie eine Gruppe von Männern, darunter ein etwa 19-jähriger Jugendlicher, bemerkte. Sie versuchte, ihnen aus dem Weg zu gehen, indem sie die Straße überquerte, doch sie wurde verfolgt. In der Nähe der Taylor Brothers Mustard and Cocoa Mill, an der Ecke von Brick Lane und Wentworth Street, wurde sie zu Boden gestoßen, und man raubte ihr das wenige Geld, das sie bei sich hatte. Als die Männer mit ihr fertig waren, hatte man sie nicht nur körperlich verletzt, sondern auch mit einem stumpfen Gegenstand missbraucht. Schwer verletzt wurde sie dazu gezwungen, ihren Heimweg fortzusetzen, obwohl sie sich offensichtlich in qualvoller Not befand. Es dauerte fast drei Stunden, bis sie schließlich in ihrem Quartier ankam. Inzwischen war sie kaum in der Lage, sich noch zu bewegen.

In den darauffolgenden Stunden, nachdem sie in ihrem Zimmer angekommen war, wurde sie von anderen Bewohnern, darunter Margaret Hayes und einer weiteren Mitbewohnerin namens Annie Lee, befragt, doch Emma war sehr zurückhaltend, was den Vorfall betraf. Später wird spekuliert, dass sie unter den schwersten Schmerzen litt und daher kaum in der Lage war, detaillierte Aussagen über den Vorfall zu machen. Sie weigerte sich nach wie vor, ins Krankenhaus zu gehen. Sie starb wenige Tage später, am 4. April 1888, aufgrund ihrer schweren Verletzungen.

In einigen Berichten wurde die Frage aufgeworfen, ob es sich bei diesem Vorfall um eine frühe Tat von Jack the Ripper handelte. Dr. Frederick Treves, der später berühmt wurde durch seine Verbindung zum „Elefantenmann“, sagte, dass die Gewalt, die Emma widerfuhr, sowie die fehlenden Spuren an der Tatstelle typische Merkmale eines Serienmörders aufwiesen. Andere dagegen argumentierten, dass die Attacke eher das Werk von Raubüberfällen und gewaltsamen Männern aus der unteren sozialen Schicht war. Aber auch die Anonymität der Tat, der vollständige Mangel an Beweisen und die Stille nach dem Vorfall könnten ein Hinweis darauf gewesen sein, dass hier eine noch unbekannte Gewaltperson auftrat, deren wahre Absichten erst mit der Zeit zutage treten sollten.

Es gibt viele Fragen, die noch immer unbeantwortet sind. War Emma Smith das erste Opfer des berüchtigten Jack the Ripper? Die Brutalität des Angriffs und die Zeitspanne zwischen der Tat und ihrem Tod legen nahe, dass es sich um einen erschreckend gewalttätigen Übergriff handelte. Doch auch die gesellschaftlichen Umstände jener Zeit, die Gefährdungslage für Frauen in den Armenvierteln und die brutale Realität des Lebens im East End Londons werfen einen Schatten auf die eindeutige Antwort. Was auch immer die genaue Wahrheit war, es bleibt die Tatsache, dass Emma Smith durch das düstere London der 1880er Jahre streifte und Opfer eines Verbrechens wurde, das, wie so viele andere, im Dunkeln der Geschichte verschwand.