In der Auseinandersetzung mit politischen Ethikfragen und Migration ist es wichtig, zu verstehen, wie Konzepte wie Gerechtigkeit und Barmherzigkeit miteinander in Beziehung stehen. Wenn wir darauf warten, dass sich eine ideale Welt manifestiert, dann sollten wir uns der dringenden Aufgabe zuwenden, herauszufinden, wem geholfen werden muss, wie und warum gerade wir diese Hilfe leisten sollten. Die Politik ist ein Raum, in dem Moralvorstellungen und ethische Tugenden eine bedeutende Rolle spielen, und eine dieser Tugenden ist die Barmherzigkeit. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Barmherzigkeit ein angemessener und fruchtbarer Ansatz für den politischen Diskurs über Migrationspolitik sein kann.

John Rawls hat in seinem Werk zur politischen Philosophie ein Modell entwickelt, das eine Gesellschaft beschreibt, die trotz der Existenz vielfältiger ethischer Weltanschauungen über die Zeit hinweg stabil bleibt. Diese Stabilität soll durch ein öffentliches Verständnis von Gerechtigkeit erreicht werden, das sich nicht auf die Wahrheit spezifischer umfassender Doktrinen stützt. Rawls betont die Notwendigkeit, in der politischen Diskussion auf eine rationale und inklusiv ausgelegte Praxis zurückzugreifen, die weder von bestimmten Tugenden noch von spezifischen moralischen oder religiösen Überzeugungen abhängig ist. Doch auch innerhalb dieses Rahmens bleibt Platz für die Überlegung, dass bestimmte politische Tugenden, wie die Barmherzigkeit, durchaus eine Rolle im politischen Diskurs spielen können.

Barmherzigkeit als politische Tugend ist keineswegs per se mit den umfassenden moralischen und religiösen Systemen verknüpft, die Rawls als außerhalb der politischen Diskussion zu stehend betrachtet. Vielmehr kann sie als eine Tugend verstanden werden, die auch innerhalb eines politischen Systems, das auf die Gerechtigkeit als Grundlage des öffentlichen Lebens setzt, Platz finden kann. Barmherzigkeit kann, wie Rawls es formuliert, einen ergänzenden Beitrag leisten, ohne dass dabei das gesamte System einer umfassenden moralischen Doktrin untergeordnet wird.

In der Tat könnte man argumentieren, dass die Politik der Migration gerade ein Bereich ist, in dem die Tugend der Barmherzigkeit von besonderer Bedeutung ist. Wenn es darum geht, die Rechte von Migranten und Flüchtlingen zu schützen und ihre Aufnahme zu organisieren, dann ist es nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch der Barmherzigkeit. Der Gedanke, dass Gerechtigkeit allein nicht ausreicht und dass wahre Gerechtigkeit nur in Verbindung mit Mitgefühl und Barmherzigkeit ausgeübt werden kann, ist nicht nur ein theologisches Prinzip, sondern auch ein praktisch-politisches. Dies zeigt sich insbesondere in der christlichen Tradition, in der Barmherzigkeit als eine zentrale Tugend betrachtet wird, die im politischen Leben Anwendung finden sollte.

Die christliche Tradition identifiziert Barmherzigkeit nicht nur als persönliche Tugend, sondern auch als gesellschaftliche Norm. Die Vorstellung, dass Barmherzigkeit als eine Antwort auf das menschliche Leid und als Bestandteil der sozialen Gerechtigkeit geübt werden sollte, ist tief in der christlichen Soziallehre verankert. Das Bild von Christus, der den gefallenen Menschen nicht nach den Maßstäben der Gerechtigkeit richtet, sondern ihn durch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes rettet, bildet eine Grundlage für das Verständnis von Barmherzigkeit als aktiver, praktischer Tugend. Das Beispiel von Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Dives in Misericordia („Reich an Barmherzigkeit“) betont, dass Barmherzigkeit notwendig ist, um Gerechtigkeit zu vervollständigen und zu verhindern, dass diese sich selbst negiert.

Ein zentrales Thema in der politischen Praxis von Barmherzigkeit ist, wie sie in der Migrationspolitik zur Anwendung kommen kann. Die christliche Ethik lehrt, dass wir die Fremden und die Bedürftigen ohne Vorbehalte annehmen sollten. Diese Ethik spiegelt sich auch in den politischen Praktiken vieler christlicher Organisationen wider, die sich für die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten einsetzen. In Deutschland etwa wurde die sogenannte Willkommenskultur als Ausdruck dieser christlichen Tugend von Barmherzigkeit verstanden. Roger Mielke, ein führender Vertreter der Evangelischen Kirche, argumentierte, dass die deutsche Offenheit für Flüchtlinge als eine Umsetzung christlicher Werte betrachtet werden sollte. Er betonte, dass in jedem menschlichen Gesicht, das leidet, das Antlitz Christi gesehen werden sollte, und dass die Antwort auf das Leid der Migranten nur eine sein kann: die Praxis der Barmherzigkeit.

Papst Franziskus hat in seiner Ansprache zur Migrationskrise im Jahr 2018 die Notwendigkeit unterstrichen, Migranten mit dem Geist der Barmherzigkeit zu begegnen. Er sprach von der Verantwortung der Gläubigen, den Bedürftigen zu helfen, und betonte, dass Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit unvollständig ist. Diese Haltung, die durch die christliche Tradition geprägt ist, hat nicht nur religiöse Bedeutung, sondern auch eine politische Dimension, die in der Debatte um Migrationspolitik von Bedeutung ist.

Es wird deutlich, dass die politische Praxis der Barmherzigkeit ein Konzept ist, das sowohl in religiösen als auch in säkularen Kontexten zur Diskussion stehen kann. Innerhalb des politischen Liberalismus, wie ihn Rawls entwirft, könnte Barmherzigkeit als eine weitere politische Tugend eingeführt werden, die nicht die universelle Gültigkeit aller ethischen Überzeugungen voraussetzt, sondern als praktisches Mittel dient, um auf soziale Ungerechtigkeiten zu reagieren und den Schwächsten in der Gesellschaft zu helfen.

Die Barmherzigkeit als politische Tugend bietet somit einen vielversprechenden Ansatz, um Migrationspolitik in einer Weise zu gestalten, die sowohl gerecht als auch mitfühlend ist. Sie fordert von den Entscheidungsträgern, nicht nur die Fakten und Zahlen zu berücksichtigen, sondern auch das menschliche Leid und die Bedürfnisse derjenigen, die auf der Suche nach Schutz und einem besseren Leben sind. Indem wir die Barmherzigkeit als Teil einer politischen Ethik verstehen, erweitern wir die Möglichkeiten des politischen Handelns und tragen dazu bei, dass politische Entscheidungen nicht nur rational, sondern auch menschenfreundlich und ethisch vertretbar werden.

Wie geht es um das Recht auf Mobilität und die Auswirkungen von Grenzkontrollen?

Das Thema der internationalen Mobilität und der Rechte von Migranten ist ein hochkomplexes und vielschichtiges Thema, das sowohl ethische, politische als auch juristische Dimensionen umfasst. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Diskussion nicht nur auf die Rechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden konzentriert, sondern auch auf die Frage, wie Staaten ihre Souveränität und nationale Sicherheit mit den moralischen Verpflichtungen gegenüber Menschen auf der Flucht in Einklang bringen können. Die Praxis der Grenzkontrollen und die unterschiedliche Wahrnehmung von Mobilitätsrechten werfen grundlegende Fragen auf, die es zu verstehen gilt.

Das Konzept der „Recht auf Mobilität“ und das von Staaten gewährte Asylrecht basieren nicht nur auf einem grundlegenden menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Selbstverwirklichung, sondern auch auf internationalen Normen, die Staaten zur Gewährung eines gewissen Schutzes verpflichten. Dabei sind jedoch die Grenzen der Rechte, die einem Einzelnen zustehen, in einer globalisierten Welt schwer zu definieren. Das Recht auf Freizügigkeit kann als moralische Forderung verstanden werden, die sich auf das Wohl der Einzelnen richtet, jedoch kollidiert es oft mit der praktischen Notwendigkeit eines Staates, seine Grenzen zu sichern und zu kontrollieren. Ein Beispiel für diese Problematik findet sich in den Diskussionen um das Recht auf Flüchtlingsaufnahme und der Frage, ob Staaten verpflichtet sind, Migranten aus anderen Ländern Schutz zu gewähren. Einige Theorien betonen das Recht eines Staates, seine Grenzen zu kontrollieren, während andere auf die moralische Verpflichtung hinweisen, humanitäre Hilfe zu leisten.

Das Problem der „Zwangsmaßnahmen“ – etwa der Möglichkeit, Migranten an der Grenze abzuweisen oder ihnen den Zugang zu verwehren – ist besonders relevant, wenn man die Rechtfertigung für solche Handlungen aus der Perspektive der Schutzpflicht eines Staates betrachtet. Die Frage, ob und wie solche Maßnahmen im Einklang mit den Rechten von Migranten stehen, wird in vielen rechtlichen und politischen Diskussionen behandelt. In einigen Fällen wird argumentiert, dass ein Staat das Recht hat, die Einwanderung zu regulieren, um seine gesellschaftliche Struktur und Ordnung zu wahren. Doch diese Perspektive wird häufig durch das Bedürfnis nach sozialer und wirtschaftlicher Integration von Migranten herausgefordert, was nicht nur eine juristische, sondern auch eine ethische Herausforderung darstellt.

Das Konzept des „Rechts auf Schutz“ im Rahmen des internationalen Flüchtlingsrechts ist ein weiteres zentrales Thema. Ein Beispiel ist die Frage, inwieweit Staaten verpflichtet sind, Asylbewerbern Schutz zu gewähren, wenn diese aus Ländern fliehen, in denen sie Verfolgung oder Krieg ausgesetzt sind. Die verschiedenen Abkommen und internationalen Konventionen, die zur Schaffung von Standards und Regelungen zum Schutz von Flüchtlingen und Migranten entwickelt wurden, stellen sicher, dass dieses Recht universell anerkannt wird. Das Problem der Grenzkontrollen und der Überprüfung der Einwanderungshürden bleibt jedoch eine große Herausforderung.

Die moralischen Implikationen solcher Praktiken dürfen nicht übersehen werden. Staaten müssen ihre Entscheidung zur Gewährung oder Verweigerung des Asyls oft unter Berücksichtigung ethischer Überlegungen treffen. Während das Recht eines Staates, seine Grenze zu sichern, unbestritten ist, sollte das Recht des Einzelnen auf Asyl und ein menschenwürdiges Leben nicht leichtfertig abgewogen werden. Viele moralische Theorien legen nahe, dass das Wohlergehen und die Menschenrechte des Einzelnen in bestimmten Fällen Vorrang vor den politischen Interessen eines Staates haben sollten. Dieses Spannungsverhältnis stellt nicht nur eine theoretische Herausforderung dar, sondern erfordert auch eine praktische Antwort in der Gestaltung von Asyl- und Einwanderungspolitik.

Zusätzlich muss beachtet werden, dass Migration nicht immer durch freiwillige Entscheidungen motiviert ist, sondern oft durch äußere Faktoren wie Krieg, Armut oder Umweltkatastrophen verursacht wird. Das bedeutet, dass Migranten und Flüchtlinge in vielen Fällen nicht die Wahl haben, ihren Aufenthaltsort zu wechseln, sondern gezwungen sind, sich aufgrund von Zwangslagen zu bewegen. Dies macht das Thema noch komplexer, da es die Frage aufwirft, inwieweit Staaten eine moralische Verantwortung tragen, Menschen zu schützen, die aufgrund äußerer Umstände gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Die Frage nach der moralischen Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen ist nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine ethische Herausforderung, die in vielen politischen und philosophischen Debatten eine zentrale Rolle spielt.

Darüber hinaus ist es wichtig zu erkennen, dass das Konzept der „Freizügigkeit“ in der modernen Welt zunehmend von den sozioökonomischen Bedingungen und den bestehenden politischen Strukturen beeinflusst wird. In vielen Fällen ist es für Migranten nicht nur die rechtliche, sondern auch die praktische Möglichkeit, von einem Land ins andere zu gelangen, die eingeschränkt wird. Verschiedene Staaten verfolgen unterschiedliche Ansätze bei der Umsetzung von Asyl- und Einwanderungsrichtlinien, was zu einer Fragmentierung der internationalen Rechtslandschaft führt. In der Praxis ist die Bewegungsfreiheit häufig durch ein komplexes Netzwerk von Visabestimmungen, Grenzkontrollen und politischen Restriktionen eingeschränkt.

Die Rolle internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen und die Einflussnahme von supranationalen Institutionen wie der Europäischen Union auf nationale Asyl- und Einwanderungspolitiken sind ein weiteres bedeutendes Thema. Solche Institutionen versuchen, durch internationale Vereinbarungen und rechtliche Instrumente eine gerechtere und humanere Handhabung der Migration zu fördern, was jedoch nicht immer reibungslos funktioniert, da nationale Interessen oft in Konflikt mit den globalen Normen geraten. Die Frage, wie eine Balance zwischen nationaler Souveränität und internationaler Verantwortung erreicht werden kann, bleibt eine ungelöste Herausforderung.

Es ist auch wichtig zu bedenken, dass Migration immer eine Frage der Perspektive ist. Die Wahrnehmung von Migranten variiert stark zwischen Ländern und Kulturen, wobei viele Länder ihre eigenen nationalen Interessen und Identitäten schützen möchten. In diesem Kontext spielen auch geopolitische Faktoren und historische Beziehungen zwischen Ländern eine Rolle. Migration sollte daher nicht nur als eine rechtliche oder wirtschaftliche Angelegenheit betrachtet werden, sondern auch als eine humanitäre Frage, die das Fundament menschlicher Beziehungen und internationalen Friedens betrifft.

Gibt es gerechte Grenzen? Über Migration, Ungleichheit und moralische Verpflichtung

Die migrationspolitischen Maßnahmen von Sheriff Joe Arpaio im US-Bundesstaat Arizona illustrieren auf bedrückende Weise, wie Migrationspolitik zur Disziplinierung und Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen eingesetzt werden kann. Unabhängig vom tatsächlichen Migrationsstatus wurden Latinx-Bürger systematisch eingeschüchtert, schikaniert und kriminalisiert – allein durch ihre Sichtbarkeit als Mitglieder einer bestimmten ethnischen Gruppe. Arpaio schuf eine Atmosphäre der Angst, indem er gezielt Latinx-Fahrer kontrollieren ließ und eine spezielle Task Force gründete, die sich auf das Aufspüren und Bestrafen von Nicht-Staatsbürgern konzentrierte. Dieses Vorgehen traf nicht nur Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus, sondern auch vollwertige Bürgerinnen und Bürger, deren Alltag durch ständige Repression geprägt war.

Diese Form der selektiven Gesetzesanwendung unterminiert die fundamentale Idee staatsbürgerlicher Gleichheit. Die soziale Funktion dieser Art von Migrationsdurchsetzung liegt nicht primär in der Verwaltung von Einwanderung, sondern in der Aufrechterhaltung von Hierarchien. Sie dient dazu, eine klare Grenze zwischen denen zu ziehen, die „dazugehören“, und jenen, die sich stets rechtfertigen müssen, warum sie überhaupt da sind. Amy Reed-Sandoval beschreibt dieses Phänomen als ein „Theater der Ungleichheit“, in dem Menschen durch staatliche Praxis an ihre untergeordnete Position erinnert werden. Eine Theorie der Gerechtigkeit in der Migration muss deshalb nicht nur auf das Verhältnis zwischen Bürgern und Nichtbürgern eingehen, sondern auch die daraus resultierenden Ungleichheiten innerhalb der Bürgerschaft thematisieren.

Zugleich gibt es Räume, in denen sich die Unterscheidung zwischen Bürger und Nichtbürger als moralisch irrelevant erweist. Die Berufung auf „Illegalität“ dient häufig dazu, Rechte pauschal abzuweisen. Doch selbst Menschen ohne rechtlichen Aufenthaltsstatus verlieren nicht ihre grundlegenden Ansprüche auf Schutz und Würde. Wer ohne Erlaubnis in einem Land lebt, darf dennoch nicht getötet oder beraubt werden – das Recht auf physische Unversehrtheit gilt unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Ebenso kann das Kind eines „illegalen“ Einwanderers nicht zur Rechenschaft für die Entscheidung seiner Eltern gezogen werden. Im Fall Plyler v. Doe urteilte der Supreme Court der USA, dass Kindern auch dann ein Recht auf Bildung zusteht, wenn sie sich ohne legalen Status im Land befinden. Die Richter stellten klar, dass es der Gerechtigkeit widerspricht, Kinder für Handlungen verantwortlich zu machen, über die sie keinerlei Kontrolle haben.

Diese juristische und moralische Einsicht findet im kollektiven moralischen Empfinden breitere Resonanz. Die Empörung über die Praxis der Familientrennungen unter der Trump-Administration etwa verweist auf ein tief verankertes Gefühl dafür, dass bestimmte Maßnahmen selbst dann falsch sind, wenn sie politisch effektiv erscheinen mögen. Das absichtliche Trennen von Kindern und Eltern stellt eine Verletzung fundamentaler Gerechtigkeitsprinzipien dar – es ist ein Akt staatlicher Gewalt, der sowohl den Kindern als auch den Eltern Unrecht zufügt. Dass solche Maßnahmen als legitimes Mittel zur Steuerung von Migration ins Auge gefasst werden, offenbart eine besorgniserregende Verschiebung moralischer Standards.

Zudem existiert die weithin geteilte Überzeugung, dass einige Menschen ein moralisches Recht auf Migration besitzen. Die Genfer Flüchtlingskonvention – eine rechtliche Folge des Schocks über die Untätigkeit der Staaten gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus – basiert auf der Vorstellung, dass Menschen unter bestimmten Umständen ein legitimes Anrecht auf Schutz haben. Wer vor Verfolgung, Gewalt oder existenzieller Not flieht, soll nicht durch formale Grenzregime abgewiesen werden. Der Fall des Flüchtlingsschiffs St. Louis, dessen jüdische Passagiere 1939 in den USA nicht aufgenommen wurden und später zu Opfern des Holocaust wurden, dient hier als mahnendes Beispiel für die tödlichen Konsequenzen geschlossener Grenzen.

Eine Theorie der Gerechtigkeit in der Migration muss daher anerkennen, dass das Recht auf Zuflucht nicht allein ein Produkt rechtlicher Kodifizierung ist, sondern tief in moralischen Intuitionen verwurzelt liegt. Wer einem Flüchtling Schutz verweigert, obwohl dieser vor realer Gefahr flieht, handelt nicht nur politisch, sondern auch moralisch ungerecht. Die Sprache der Gerechtigkeit erlaubt es, diesen Anspruch klar zu formulieren: Es gibt Menschen, die ein Recht auf Aufnahme haben, und dieses Recht darf nicht leichtfertig dem staatlichen Interesse an Kontrolle untergeordnet werden.

Diese Einsichten – über die moralische Unhaltbarkeit diskriminierender Migrationsdurchsetzung, über die Unantastbarkeit gewisser Grundrechte auch für Nichtbürger und über die moralische Verpflichtung zur Aufnahme Schutzsuchender – setzen Grenzen für jede Theorie von Gerechtigkeit in der Migration. Sie sagen uns, was nicht gesagt oder getan werden darf, wenn man den Begriff der Gerechtigkeit ernst nimmt. Doch sie geben nur begrenzte Orientierung, wie ein gerechtes Migrationssystem konkret ausgestaltet sein könnte. Die zentrale Herausforderung besteht darin, zwischen staatlicher Autonomie und globaler Gerechtigkeit zu vermitteln, ohne in die Extreme einer vollständigen Schließung oder völligen Öffnung der Grenzen zu verfallen. Der moralische Gehalt der Frage nach Migration liegt nicht nur in der Verteidigung gegen Unrecht, sondern in der aktiven Gestaltung von Ordnung, die mehr ist als ein administratives Regime – eine Ordnung, die das Individuum auch jenseits staatsbürgerlicher Zugehörigkeit als Träger von Rechten ernst nimmt.