Die Freiheit der innerstaatlichen Bewegung ist ein fundamentales Menschenrecht, das sowohl für Bürger als auch für Nicht-Bürger eines Landes von großer Bedeutung ist. Dabei geht es nicht nur um das persönliche Bedürfnis nach Mobilität, sondern um tiefere politische und historische Dimensionen, die diese Freiheit zu einem unerlässlichen Bestandteil einer gerechten Gesellschaft machen.

Ein häufiger Fehler in der politischen Diskussion ist, dass wir den Wert dieser Freiheit ausschließlich auf der Grundlage individueller Interessen verstehen, etwa weil jemand seine Religion frei ausüben oder bestimmte kulturelle Aktivitäten genießen möchte. Diese individuellen Interessen sind jedoch nicht der wahre Kern der Wichtigkeit dieser Rechte. Ein Beispiel lässt sich hier durch das Recht auf Religionsfreiheit ziehen: Obwohl ein Individuum das Recht auf religiöse Freiheit möglicherweise auch wegen seiner persönlichen Vorlieben oder seiner Liebe zur Kirchenmusik verteidigt, ist das wahre Fundament dieses Rechts in der langen Geschichte der Verfolgung und Marginalisierung von Glaubensgemeinschaften zu finden. Die Bedeutung der Religionsfreiheit liegt nicht nur in der Stärke des individuellen Interesses, sondern in der Notwendigkeit, Bürger vor der Gefahr des staatlichen Missbrauchs zu schützen.

Ähnlich verhält es sich mit der Freiheit der Bewegung innerhalb eines Landes. Die Notwendigkeit, diese Freiheit zu verteidigen, kann nicht nur durch den bloßen Wunsch nach Mobilität gerechtfertigt werden. Vielmehr hängt die Bedeutung dieses Rechts eng mit der Notwendigkeit zusammen, politische Gewalt und die illegitime Ausübung staatlicher Macht zu verhindern. Die Debatte über die innere Mobilität muss sich, ähnlich wie die Diskussion über die Religionsfreiheit, mit der Frage auseinandersetzen, wie Staaten historisch dazu neigen, die Rechte ihrer Bürger zu unterdrücken. Der Schutz der Bewegungsfreiheit schützt nicht nur vor unmittelbaren Repressionen, sondern ist auch eine Absicherung gegen die natürliche Tendenz von Staaten, ihre Macht auf Kosten der individuellen Freiheit auszudehnen.

Der politische Philosoph Joseph Carens argumentiert in seiner Analyse der politischen Gleichheit und der innerstaatlichen Mobilität, dass Mobilität ein zu breites Recht sei, um als primäres Instrument der politischen Gerechtigkeit zu dienen. Doch dieser Standpunkt ist problematisch. Auch Rechte, die auf engen rechtlichen oder politischen Zwecken beruhen, können weite, allgemeine Auswirkungen haben. Ein Beispiel ist das Recht auf Meinungsfreiheit: Obwohl seine moralische Rechtfertigung oft auf der Suche nach Wahrheit und der Förderung politischen Diskurses basiert, schützt es gleichzeitig auch sprachliche Ausdrucksformen, die keine politische Bedeutung haben, etwa humorvolle Blogs oder triviale Unterhaltung. Ein Recht, das auf einem schmalen moralischen Fundament beruht, kann durchaus weitreichende und allgemeine Auswirkungen haben. Das zeigt, dass auch scheinbar „breite“ Rechte wie die Freiheit der innerstaatlichen Bewegung durchaus sinnvoll und notwendig sein können, um staatliche Macht und Unterdrückung zu begrenzen.

Interessanterweise vertreten viele Befürworter offener Grenzen eine Vorstellung von Mobilität als einem vorpolitischen Recht. Sie argumentieren, dass der Mensch vor der Entstehung von Staaten ein natürliches Recht auf Bewegungsfreiheit besaß, das durch die Schaffung von Staaten eingeschränkt wurde. Diese Perspektive vernachlässigt jedoch eine zentrale Frage: Welche Verantwortung tragen Staaten in der Schaffung eines politischen Rahmens, der es ermöglicht, die Rechte ihrer Bürger zu schützen? Staaten existieren nicht, um den natürlichen Zustand der Freiheit zu zerstören, sondern um eine geordnete, gerechte Gesellschaft zu schaffen, in der individuelle Rechte geschützt und gewahrt werden. Die Vorstellung von Mobilität als vorpolitisches Recht suggeriert, dass Staaten grundsätzlich illegitim sind, wenn sie Bewegungsfreiheit einschränken. In Wirklichkeit sind es jedoch die politischen Strukturen eines Staates, die die Bedingungen für Freiheit und Gerechtigkeit schaffen müssen.

Ein weiteres wichtiges Konzept in dieser Debatte ist das Recht auf Auswanderung und seine Beziehung zum Recht auf Einwanderung. Die Vorstellung, dass das Recht, ein Land zu verlassen, gleichzeitig das Recht impliziert, in ein anderes Land einzutreten, wird oft diskutiert. Doch diese Annahme lässt sich nicht immer aufrechterhalten. Das Recht, ein Land zu verlassen, ist durchaus ein wichtiges Recht, aber es garantiert nicht automatisch das Recht, jedes beliebige Land zu betreten. Ein Beispiel für diesen Unterschied findet sich in der Analogie zu Eheverhältnissen. Es ist ein grundlegendes Recht, eine Person zu heiraten, die bereit ist, in einer Beziehung zu sein, aber dieses Recht garantiert nicht, dass man jemanden heiraten kann, der nicht zustimmt. Ebenso bedeutet das Recht, ein Land zu verlassen, nicht, dass man das Recht hat, in jedes andere Land einzutreten.

Die Realität der Nationen und ihrer Grenzen stellt jedoch eine besondere Herausforderung dar. Während die Möglichkeit, in einem anderen Land zu leben, theoretisch ein Gebot der politischen Freiheit ist, ist das Fehlen einer solchen Option im Falle von Staaten problematisch und gefährlich. Ein Leben ohne Zugehörigkeit zu einem Staat – als Staatenloser – ist mit erheblichen Risiken verbunden und gefährdet die Lebenserwartung und Lebensqualität der betroffenen Menschen. Das Fehlen einer politischen Gemeinschaft lässt den Einzelnen in einer rechtlichen und sozialen Leere zurück, die seine Fähigkeit zur Entfaltung massiv einschränkt.

Es ist wichtig zu erkennen, dass die rechtliche Garantie der Bewegungsfreiheit und die Möglichkeiten, dieses Recht in der Praxis zu nutzen, nicht immer übereinstimmen müssen. Die Freiheit, sich zu bewegen, ist ein fundamentales Recht, das nicht nur dann existiert, wenn die Bedingungen zur Ausübung dieses Rechts gegeben sind. Ein Individuum hat das Recht, seine Religion auszuüben, auch wenn es sich keine teure Pilgerreise leisten kann. Ebenso hat jemand das Recht zu migrieren, auch wenn die Möglichkeiten, dies zu tun, schwer zugänglich oder gar nicht vorhanden sind. Das macht deutlich, dass Rechte nicht nur in Bezug auf die realen Mittel zur Ausübung dieses Rechts betrachtet werden sollten, sondern auch in Bezug auf ihre moralische und politische Bedeutung.

Darf ein Staat Menschen an seiner Grenze zurückweisen?

Die Frage, ob ein Staat das Recht hat, Menschen an seiner Grenze zurückzuweisen, ist eine der zentralen ethischen und rechtlichen Herausforderungen der heutigen Zeit. In den letzten Jahrzehnten hat sich die internationale Diskussion über Flucht und Migration zunehmend auf die Frage konzentriert, welche Verpflichtungen Staaten gegenüber denjenigen haben, die in ihren Gebieten Schutz suchen. Das zentrale moralische Dilemma dabei betrifft die Legitimität von Zwangsmaßnahmen, die darauf abzielen, Menschen an der Einreise zu hindern, während sie gleichzeitig aus Ländern fliehen, in denen ihre grundlegenden Menschenrechte nicht ausreichend geschützt werden.

Ein wesentliches Prinzip, das in diesem Kontext eine Rolle spielt, ist das des „non-refoulement“ – die Verpflichtung von Staaten, Menschen nicht in ein Land zurückzuschicken, in dem sie Gefahr laufen, verfolgt oder anderweitig misshandelt zu werden. Ursprünglich wurde dieses Prinzip im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention entwickelt, um sicherzustellen, dass Flüchtlinge nicht in Länder zurückgeführt werden, aus denen sie geflüchtet sind, wenn in diesen Ländern keine hinreichende politische und soziale Sicherheit gewährleistet werden kann. Heute ist der Anwendungsbereich des „non-refoulement“ jedoch deutlich breiter gefasst: Er bezieht sich nicht nur auf Menschen, die vor politischer Verfolgung fliehen, sondern auch auf diejenigen, die Opfer von Gewalt, sozialer Zerfall oder anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen geworden sind.

Doch warum sollte dieser Schutz nur den Menschen gewährt werden, die tatsächlich an der Grenze eines Staates um Asyl bitten? Die moralische Frage stellt sich, warum nicht auch allen anderen, die sich in ähnlichen, aber nicht unbedingt unmittelbaren Bedrohungen befinden, dieselbe Hilfe gewährt werden sollte. Es wäre moralisch konsequent zu sagen, dass alle Menschen, die in Gefahr sind, vor Misshandlung, Gewalt oder Hungersnot fliehen, dieselben Rechte auf Schutz und Hilfe haben sollten – unabhängig davon, ob sie sich bereits an den Grenzen eines Staates aufhalten oder noch in ihren Heimatländern leben. Es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern ein Staat verpflichtet ist, Menschen zu retten, die nicht unmittelbar vor seinen eigenen Toren stehen.

Ein möglicher Einwand gegen die Idee, dass Staaten verpflichtet sind, „jede“ Person vor Verfolgung oder Elend zu retten, ist die Frage der praktischen Umsetzbarkeit. In der Praxis ist es schlichtweg unmöglich, allen Menschen, die sich in bedrohlichen Verhältnissen befinden, die Mittel zu verschaffen, um in ein sicheres Land zu gelangen. Hierbei wird auf die Asymmetrie zwischen der Bedrohung durch gewaltsame Zurückweisung an der Grenze und der Absenz aktiver Hilfe außerhalb dieser Grenze hingewiesen. Ein Staat könnte es als moralisch unzulässig ansehen, eine Person mit Gewalt daran zu hindern, die Grenze zu überschreiten, während er gleichzeitig nichts unternimmt, um diejenigen zu unterstützen, die sich noch in ihrer Heimat befinden und ebenfalls auf Hilfe angewiesen sind. Diese moralische Unterscheidung ist von großer Bedeutung, da sie die Verantwortung von Staaten in zwei verschiedene Kategorien aufteilt: Die Verpflichtung, Menschen, die an den Grenzen um Schutz bitten, nicht mit Gewalt zurückzuweisen, steht im Gegensatz zu einer allgemeinen Pflicht, weltweit überall den Bedürftigen zu helfen.

Die Frage bleibt jedoch, wie weit diese moralische Verpflichtung reicht und wie genau das Konzept der „gerechten“ Asylgewährung zu definieren ist. Ist es lediglich ein Recht auf Schutz oder auch ein Anspruch auf dauerhafte Niederlassung im Zufluchtsstaat? Diese Unterscheidung zwischen vorübergehendem Schutz und langfristiger Integration ist entscheidend, wenn man die vielfältigen Möglichkeiten von Schutzmaßnahmen und die Rolle des Staates in der Flüchtlingshilfe betrachtet. Die Staaten sind nicht nur verpflichtet, Flüchtlingen Schutz zu gewähren, sondern sie müssen auch die Art des Schutzes und die Frage, ob dieser auf Dauer oder nur temporär gewährt wird, präzise regeln.

Ein weiteres ungelöstes Problem besteht in der Frage, ob Staaten das Recht haben, den Schutz, den sie gewähren, auf einem anderen Gebiet oder außerhalb ihrer eigenen Grenzen zu gewähren. Zum Beispiel hat Australien begonnen, Flüchtlinge nicht mehr auf seinem eigenen Territorium, sondern auf Inseln wie Vanuatu unterzubringen. Obwohl dies den rechtlichen Rahmen des „non-refoulement“ zu wahren scheint, stellt sich die moralische Frage, ob dies als ausreichender Schutz gelten kann, wenn es den Flüchtlingen nicht ermöglicht, das Land zu betreten, in dem sie Asyl suchen.

Ein weiterer komplexer Punkt ist die Definition derjenigen, die ein Recht auf Asyl haben. Die Flüchtlingskonvention von 1951 legt fest, dass nur bestimmte Gruppen von Menschen als Flüchtlinge anerkannt werden, doch das Verständnis von „Flüchtling“ hat sich weiterentwickelt. Nicht nur politisch Verfolgte, sondern auch Menschen, die Opfer von Kriegen, Naturkatastrophen oder anderen Formen von Gewalt sind, können in einer Weise behandelt werden, die sie in eine ungerechte Beziehung zu ihrem Heimatland stellt. Hier stellt sich die Frage, ob diese Menschen ebenfalls ein Recht darauf haben, die Grenze eines Staates zu überschreiten, wenn sie in ihrem Heimatland keiner gerechten Behandlung unterworfen sind.

Es gibt noch viele ungelöste Fragen, die die Theorie und Praxis des internationalen Asylrechts betreffen. Es bleibt zu klären, wie Staaten die Rechte derjenigen anerkennen und schützen können, die sich in Not befinden. Dabei geht es nicht nur um die Frage der Asylgewährung, sondern auch um die Verantwortung von Staaten, die Bedingungen zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen, in einer sicheren und gerechten Gesellschaft zu leben. Es ist entscheidend, dass Staaten ihre Rolle nicht nur als Hüter ihrer Grenzen verstehen, sondern auch als Akteure, die Verantwortung für das weltweite Wohl und die Rechte der Menschen übernehmen.

Was bedeutet Barmherzigkeit im Kontext von Migration?

Barmherzigkeit kann sowohl negativ als auch positiv verstanden werden. Im ersten Fall betrifft sie einzelne, konkrete Personen – etwa eine Frau wie Smilla, die kleinere Vergehen begangen hat. In solchen Fällen bedeutet Barmherzigkeit, dass man auf eine harte, aber gerechtfertigte Strafe verzichtet. Die Entscheidung, ihr gegenüber barmherzig zu sein, bleibt eine moralische Möglichkeit, keine Pflicht. Doch wenn wir sie ablehnen, erklären wir unsere Haltung direkt an ihrem Fall. Sie ist der "Ort" der Barmherzigkeit. Diese Form ist negativ, weil sie sich auf das Unterlassen eines ansonsten zulässigen Schadensakts bezieht.

Dem gegenüber steht eine positive Form der Barmherzigkeit. Sie betrifft nicht eine bestimmte Einzelperson, sondern eine größere Gruppe, in der jede Person ein möglicher Empfänger barmherzigen Handelns sein kann. Denken wir an Menschen, die in ein anderes Land migrieren wollen, um ihre beruflichen Möglichkeiten zu verbessern. Sie haben kein moralisches Recht auf Migration, allein aus dem Wunsch heraus. Und doch erscheint die pauschale Ablehnung aller als ein Mangel an Barmherzigkeit – nicht, weil einem Einzelnen Unrecht geschieht, sondern weil das Potential für Hilfe verweigert wird. Positive Barmherzigkeit bedeutet hier, dass man einigen – nicht allen – aus der Gruppe einen positiven Nutzen gewährt, etwa durch den Zugang zu Ressourcen, die nur im aufnehmenden Land vorhanden sind.

Zwischen diesen beiden Formen – negativer und positiver Barmherzigkeit – besteht keine scharfe Trennung. Auch innerhalb der großen Gruppen, die potenziell von positiver Barmherzigkeit profitieren könnten, finden sich immer wieder Einzelfälle, die nach den Kriterien negativer Barmherzigkeit betrachtet werden können. Diese idealtypische Unterscheidung hilft uns, die moralische Landschaft von Migrationsentscheidungen zu kartographieren.

Staaten können Programme entwickeln, durch die Menschen außerhalb ihrer Grenzen Zugang zu besseren Lebensmöglichkeiten erhalten. Sie sind nicht verpflichtet, jedem zu helfen, aber das vollständige Fehlen solcher Programme wäre moralisch problematisch. Der Staat handelt dabei nicht ungerecht, wenn er Migration einschränkt. Doch er wäre unbarmherzig – oder, um es kantianisch zu sagen, würde an Wohltätigkeit mangeln. In alltäglicher Sprache wäre ein solcher Staat einfach hartherzig.

Ein Beispiel ist die Gruppe der sogenannten "Affinitätsmigranten" – Menschen, die aus einer besonderen Verbindung zu einem Land dorthin ziehen möchten. Sei es wegen beruflicher Möglichkeiten, geografischer Gegebenheiten oder kultureller Nähe. Diese Menschen haben kein Recht auf Einreise, aber ihre Ablehnung ist ein Verlust an Barmherzigkeit. Ein Staat, der solche Fälle vollständig ausschließt, offenbart eine moralische Blindstelle. Er verliert die Chance, sowohl dem Einzelnen als auch sich selbst einen Nutzen zu verschaffen: durch Austausch, Wissensgewinn, neue soziale Netzwerke und gestärkte transnationale Institutionen.

Wichtig ist: Die moralische Forderung nach Barmherzigkeit hängt nicht von den möglichen Vorteilen ab, die Migrantinnen und Migranten mitbringen könnten. Auch wenn der wirtschaftliche oder soziale Nutzen groß wäre – das ethische Gewicht liegt darin, dass Hilfe überhaupt möglich wäre. Ein Staat kann also gerecht handeln und doch moralisch versagen. Diese Differenz ist zentral für das Verständnis migrationspolitischer Entscheidungen im Spannungsfeld von Recht, Moral und Menschlichkeit.

Dabei sollte bedacht werden, dass sich Barmherzigkeit nicht nur auf Einzelfälle beschränkt. Der moralische Appell richtet sich auch an die institutionelle Ebene: Es geht nicht nur darum, wer aufgenommen wird, sondern auch darum, ob überhaupt Strukturen geschaffen werden, in denen Aufnahme möglich ist. Eine Gesellschaft, die sich kategorisch gegen jede Form nicht-flüchtlingsbezogener Migration entscheidet, zeigt keine juristische Ungerechtigkeit – aber sie verpasst es, sich als moralisch verantwortungsbewusst zu erweisen.

Die moralische Qualität einer Gesellschaft misst sich nicht allein an ihren Gesetzen, sondern auch an ihrer Fähigkeit zur Barmherzigkeit. In einer Welt, in der Mobilität oft der Schlüssel zu Würde, Entwicklung und Teilhabe ist, wird Migration zum Prüfstein dieser Fähigkeit. Migration kann als ein Ort verstanden werden, an dem sich unsere Haltung zum Anderen – zum Fremden – konkretisiert. Und genau dort entscheidet sich, ob wir Gerechtigkeit allein genügen lassen oder ob wir auch Raum schaffen für Barmherzigkeit, wo sie möglich und menschlich geboten ist.

Warum ist es problematisch, Menschen als „illegal“ zu bezeichnen?

Die Reduktion eines Menschen auf den Begriff „illegal“ stellt eine sprachliche Verschiebung dar, die tiefgreifende moralische und politische Folgen hat. Diese Formulierung ist keineswegs neutral. Sie ist Ausdruck einer ideologischen Konstruktion, in der rechtliche Kategorien in moralische Urteile überführt werden. Während beispielsweise niemand auf die Idee käme, einen Menschen, der eine Bagatelle wie das Überqueren der Straße bei Rotlicht begeht, als „illegalen Fußgänger“ zu bezeichnen, scheint es gesellschaftlich akzeptabel, jene, die sich ohne Aufenthaltstitel in einem Land befinden, pauschal als „Illegale“ zu brandmarken.

Das amerikanische Recht unterscheidet dabei präzise zwischen verschiedenen Formen der Grenzüberschreitung: Die unerlaubte Einreise ohne Inspektion stellt eine Straftat dar, während der Verbleib nach Ablauf eines legalen Visums lediglich eine zivilrechtliche Übertretung ist. Diese juristische Unterscheidung wird jedoch im öffentlichen Diskurs häufig nivelliert, zugunsten einer generalisierenden Verurteilung. Begriffe wie „illegal immigrant“ oder gar „illegal alien“ sind nicht deskriptiv, sondern normativ aufgeladen – sie wirken entmenschlichend und delegitimierend.

In moralphilosophischer Hinsicht eröffnet sich hier die Debatte über die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz. Während manche Theoretiker – etwa Rawls – von einer natürlichen Pflicht sprechen, gerechten Institutionen zu folgen, wird dieser Ansatz von anderen wie Simmons infrage gestellt. Die Idee, dass rechtlicher Status automatisch moralische Verpflichtung erzeugt, ist nicht unhinterfragt. Es existiert keine einfache Übertragung zwischen Gesetz und Gerechtigkeit – zumal Gesetze historisch kontingent, interessengeleitet und nicht selten moralisch defizitär sind.

Ebenso problematisch ist die Berufung auf Reziprozität: Die Vorstellung, dass Migrant:innen allein deshalb Dankbarkeit schulden, weil sie gewisse Vorteile genießen, verkennt die strukturelle Asymmetrie der globalen Ordnung. Reziprozität in einem moralisch relevanten Sinn muss sich auf ein geteiltes Maß von Gerechtigkeit gründen, nicht bloß auf historisch gewachsene Ungleichverteilungen.

Philosophische Überlegungen wie jene von Abizadeh oder Carens argumentieren daher für offene Grenzen oder zumindest für eine ernsthafte Infragestellung staatlicher Grenzhoheit als moralisch privilegiertem Prinzip. Migration wird so nicht länger als Ausnahme verstanden, die einer Rechtfertigung bedarf, sondern als Ausdruck eines grundlegenden menschlichen Bewegungsrechts, das in die Sphäre der Gerechtigkeit gehört.

Ein weiterer Aspekt, der Beachtung verdient, ist die zunehmende Vermischung von Migrationskontrolle mit strafrechtlicher Logik. Der Bericht von Human Rights First zeigt exemplarisch, wie westliche Staaten zunehmend dazu übergehen, Migrationsregime mit Maßnahmen des Strafvollzugs zu koppeln – von der Internierung über die Kriminalisierung bis zur Inhaftierung in Einrichtungen, die faktisch Gefängnissen gleichen. Diese Entwicklung markiert eine strukturelle Verschiebung, in der der Mensch als Subjekt politischer Rechte durch den „illegalen Fremden“ ersetzt wird, dem kaum noch Schutz, sondern vor allem Kontrolle zuteilwird.

Schließlich bleibt die symbolische Dimension: Begriffe prägen Wahrnehmung. Die Sprache, in der über Migration gesprochen wird, ist nicht nur Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern auch Werkzeug ihrer Reproduktion. Wer einen Menschen „illegal“ nennt, nimmt ihm das moralische Gesicht – er reduziert ihn auf eine Rechtsverletzung, die aus dem sozialen Kontext isoliert und moralisch aufgeladen wird. Diese Reduktion dient der Entmenschlichung, nicht der Analyse.

Wichtig ist daher zu erkennen, das