Die Metapher von Zwergen, die auf den Schultern von Riesen stehen, beschreibt treffend das Prinzip der Wahrheitssuche durch den Aufbau auf bereits gemachten Entdeckungen. Obwohl dieser Gedanke ursprünglich im 12. Jahrhundert von Bernard von Chartres formuliert wurde, machte Isaac Newton das Konzept 1676 populär. Diese Idee ist heute genauso relevant wie zu Newtons Zeiten im 17. Jahrhundert. Seit den frühen 1960er Jahren begannen visionäre Rechtsexperten wie Stewart Macaulay und Ian Macneil, die Bedeutung der „weichen“ relationalen Seite von Verträgen zu betonen. Macaulays Artikel von 1963 zu diesem Thema gilt als der am häufigsten zitierte in der Vertragsrechtsliteratur. Man kann ohne Zweifel sagen, dass diese Pioniere den Funken entzündeten, der in den juristischen und wirtschaftlichen Feldern weitreichende Diskussionen über die Vor- und Nachteile relationaler Verträge anstieß. Doch warum hat sich das Konzept der relationalen Vertragspraktiken trotz der zahlreichen Debatten nicht durchgesetzt?

Ein Grund für die zögerliche Akzeptanz relationaler Verträge liegt in ihrer engen Verbindung mit der informellen, „nicht-vertraglichen“ Seite von Geschäftsbeziehungen. Wenig überraschend fühlen sich die meisten Organisationen – insbesondere deren Rechtsabteilungen – unwohl mit informellen Absprachen, besonders wenn es um wichtige Geschäftsentscheidungen geht. Ein Anwalt eines Fortune-500-Unternehmens bezeichnete relationale Verträge sogar als „haarsträubend“. Das Resultat? Während Macaulay und Macneil die Vorteile relationaler Geschäftsbeziehungen betonten, strebte der Großteil der juristischen Praxis in eine andere Richtung, auf der Suche nach immer umfangreicheren und vollständigen Verträgen, um sich vor den Risiken opportunistischer Geschäftsakteure zu schützen. Die Folge war, dass heutige Verträge länger, starrer und risikoscheuer formuliert sind als je zuvor. Doch sind diese Verträge wirklich besser?

Oliver Hart von der Harvard University ist der Ansicht, dass der Versuch, den „vollständigen Vertrag“ zu schaffen, eine törichte Sache sei. Warum? In der heutigen Geschäftswelt sind die Bedingungen dynamischer und die Unsicherheit größer als je zuvor. Die bewährten Methoden der letzten 30 Jahre zur Erstellung von Transaktionsverträgen sind für komplexe, interdependente Beziehungen, die mit Risiken unvorhersehbarer Entwicklungen und sich wandelnder Geschäftsbedürfnisse nach Unterzeichnung des Vertrages konfrontiert sind, nicht mehr geeignet. Kurz gesagt: Die Welt hat sich verändert, doch die Verträge haben es nicht getan.

Viele Akademiker und Praktiker sprechen von den subtilen Verschiebungen, die seit der Jahrtausendwende stattgefunden haben, als „die neue Wirtschaft“. Diese neue Wirtschaft wird durch mehrere Faktoren geprägt, darunter:

  • Die zunehmende Globalisierung, die die Marktvernetzung beschleunigt, sowie die verstärkte Mobilität von Humanressourcen, was zu einem Netzwerk von hoch integrierten Organisationen führt.

  • Ein Geschäftsumfeld, das durch volatile und risikobehaftete Elemente geprägt ist, etwa internationale Terrorismusgefahren, Staatsverschuldung, Naturkatastrophen und Verzögerungen in Hafenbetrieben aufgrund von Arbeitskämpfen und unzureichender Infrastruktur.

  • Die immer schnelllebigere, konsumergesteuerte Gesellschaft, die agileren und flexibleren Lieferketten bedarf.

  • Die fortschreitende Evolution der Dienstleistungswirtschaft, die sich zunehmend auf strategisches, nicht nur taktisches Outsourcing konzentriert.

  • Ein Wandel der Einkaufsfähigkeiten und -prozesse hin zu einer stärkeren Wertschöpfung, statt der bloßen Beschaffung von Gütern und Dienstleistungen.

  • Die Expansion und Integration von Cloud-Computing und kollaborativen Ansätzen im Beschaffungsprozess.

Diese fundamentalen wirtschaftlichen Verschiebungen erfordern es, dass Vertragsprofis die Vertragsgestaltung aus einer neuen Perspektive betrachten. Die Forschung hat immer wieder die Wirksamkeit kollaborativer Partnerschaften unter Beweis gestellt. Die geschäftlichen Auseinandersetzungen dieses Jahrhunderts werden durch die Stärke strategischer Allianzen entschieden, bei denen Organisationen ihre Kernkompetenzen bündeln, um mehr Wert zu schaffen, als es jede Organisation alleine könnte. Dies bedeutet auch die Anerkennung der Tatsache, dass Geschäfte immer mit Risiken verbunden sind. Anstatt Risiken lediglich durch Marktmacht und vertragliche Klauseln zu verschieben, können Partner mehr Wert schaffen, wenn sie auf einer soliden Basis von Transparenz und Vertrauen aufbauen und gemeinsam daran arbeiten, Risiken zu minimieren, anstatt sie einfach auf die schwächere Partei abzuwälzen.

Der Weg zur Nutzung relationaler Verträge unterscheidet sich erheblich von dem derzeit gängigen, risikoscheuen, transaktionalen Vertragsansatz. Der weniger befahrene Weg kann jedoch erhebliche Vorteile mit sich bringen. Ein solcher Weg könnte darin bestehen, formale relationale Verträge für komplexe und voneinander abhängige Geschäftsbeziehungen zu nutzen, die Innovation und Risikominimierung erfordern. Was jedoch genau ist ein formaler relationaler Vertrag? Ein formaler relationaler Vertrag wird wie folgt definiert:

Ein rechtlich durchsetzbarer schriftlicher Vertrag, der eine kommerzielle Partnerschaft innerhalb eines flexiblen vertraglichen Rahmens begründet, der auf sozialen Normen und gemeinsam definierten Zielen basiert und die Beziehung mit kontinuierlicher Interessenabgleichung vor den kommerziellen Transaktionen priorisiert.

Es ist wichtig zu betonen, dass es einen Unterschied zwischen einem formalen relationalen Vertrag und relationalem Contracting gibt. In diesem Kontext bezeichnet relationales Contracting den Prozess, durch den zwei oder mehr Parteien eine kommerzielle Beziehung auf der Grundlage von relationalen Elementen wie gemeinsamen Visionen und Werten sowie einer kollaborativen Arbeitsweise etablieren. Diese Elemente sind nicht zwangsläufig Bestandteil eines formellen, durchsetzbaren Vertrages. Wenn sie nicht in einen Vertrag aufgenommen werden, bleibt die Beziehung dennoch ein relationaler Vertrag, jedoch eher von informeller Art, wie ihn Macaulay und Macneil beschrieben haben. Ein Beispiel für diese informellen „Handshake“-Abkommen in der Lieferkette ist McDonald’s, das in seiner Zusammenarbeit mit seinen strategischen Zulieferern keine formalen relationalen Verträge codifiziert hat.

Die Forschung des University of Tennessee (UT), die zu Beginn der 2000er Jahre begann und bis heute fortgesetzt wird, hat zu einem Modell geführt, das als Vested® bekannt ist. Dieses Modell fördert hochgradig kollaborative Beziehungen zwischen Käufern und Lieferanten, bei denen beide Seiten gleichermaßen in den Erfolg des anderen investiert sind. Es ist das Ergebnis jahrelanger Forschung und dient als Grundlage für ein Win-Win-Wirtschaftsmodell, das nicht nur auf den kurzfristigen Nutzen abzielt, sondern auf langfristigen, nachhaltigen Erfolg für beide Parteien.

Die Entwicklung dieses Modells zeigt, dass der Erfolg in der modernen Wirtschaft zunehmend von der Fähigkeit abhängt, starke, strategische Partnerschaften zu schaffen, die über die traditionellen, risikoscheuen Vertragspraktiken hinausgehen.

Wie entsteht eine gemeinsame Vision und strategische Ziele in relationalen Verträgen und warum sind sie entscheidend?

Wenn potenzielle Partner auf höchster Ebene beginnen und sich auf eine einheitliche, gemeinsame Vision einigen, schaffen sie eine Grundlage für die weiteren strategischen Zielsetzungen. Diese Ausrichtung führt dazu, dass alle Parteien mit ihren Ansichten und Erwartungen auf dasselbe Ziel hinarbeiten. Kann keine solche Einigung auf dieser Ebene erzielt werden, ist dies ein starkes Signal, dass eine Vertragsbeziehung wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt ist und daher besser nicht eingegangen werden sollte. Der Aufwand, der in dieser frühen Phase der Ausrichtung investiert wird, prägt und lenkt den gesamten weiteren Prozess. Der Vertrag und die Beziehung zwischen den Parteien werden auf diese gemeinsame Vision und die daraus abgeleiteten strategischen Ziele ausgerichtet.

Die Annahme einer gemeinsamen Vision und strategischer Ziele ist dabei nur der erste Schritt im Prozess der Ausrichtung. Während der weiteren Vertragsentwicklung und Zusammenarbeit müssen die Parteien kontinuierlich an dieser Ausrichtung arbeiten, um den Erfolg der Partnerschaft zu gewährleisten. Der Weg zum Erfolg beginnt unweigerlich mit dieser gemeinsamen Basis.

Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Vision wird besonders deutlich, wenn man die Charakteristika relationaler Verträge betrachtet. Relationale Verträge zeichnen sich durch eine kontinuierliche Abstimmung von Interessen und Erwartungen aus, was insbesondere bei hoher Abhängigkeit der Vertragspartner von Bedeutung ist. Die traditionellen Mechanismen zur Risikominderung, wie Marktmacht oder staatliche Regulierung, verlieren in solchen Konstellationen oft ihre Wirksamkeit. Hohe Abhängigkeiten erzeugen erhebliche Wechselkosten und machen eine gerichtliche Auseinandersetzung oder Vertragskündigung unwahrscheinlich, es sei denn, es kommt zu extremen Situationen. Gleichzeitig führt die Komplexität der Zusammenarbeit zu einem erhöhten Risiko der Interessens- und Erwartungsdiskrepanzen, welche ein herkömmlicher transaktionaler Vertrag nur unzureichend adressieren kann.

Ein relationaler Vertrag mindert diese Risiken, indem er eine fortlaufende Interessenausrichtung ermöglicht, die mit einer gemeinsamen Sicht darauf beginnt, was die Parteien zusammen erreichen wollen. Wissenschaftliche Studien, etwa von Robert Gibbons und Rebecca Henderson, belegen, dass die informellen Bindungen zwischen Parteien umso stärker sind, je klarer sie ein gemeinsames Ziel definieren. Diese Klarheit fördert Vertrauen und Kooperationsbereitschaft.

Dabei ist die menschliche Natur ein entscheidender Faktor. Menschen handeln sowohl opportunistisch als auch altruistisch, gleichzeitig streben sie nach Fairness. Ein gemeinsames Ziel reduziert das Potenzial für opportunistisches Verhalten, indem es die Parteien auf eine gemeinsame „Seite“ bringt. Selbst wenn Opportunismus auftritt, geschieht dies meist nur, wenn es beiden Seiten einen Vorteil verschafft, da ein Schaden für die andere Partei zugleich einen Schaden für einen selbst bedeutet. Dies führt zu einem nachhaltigen Interesse an der Partnerschaft.

Oliver Hart hat zudem gezeigt, dass Verträge als Referenzpunkt für Erwartungen dienen sollten. Ein gemeinsames Verständnis dieser Erwartungen lässt sich am besten durch eine formal vereinbarte gemeinsame Vision und strategische Zielsetzungen erreichen. Auch wenn solche Visionen manchmal als zu abstrakt kritisiert werden, bieten sie gerade in komplexen und dynamischen Umgebungen Orientierung und Flexibilität. Spezifische Vertragsdetails können nicht alle Eventualitäten erfassen; eine gemeinsame Vision fungiert als Kompass, der bei unvorhergesehenen Ereignissen die Richtung vorgibt.

Wichtig ist zu betonen, dass die gemeinsame Vision und die strategischen Ziele nicht das Ende des Ausrichtungsprozesses darstellen, sondern den Anfang. Sie geben die Richtung vor, während die konkreten Vertragsdetails – Leistungen, Vergütung, Investitionen, Rechte und Ausstiegsbedingungen – in späteren Schritten präzisiert werden. Gerade in diesen Details zeigt sich oft, ob Interessen wirklich ausgerichtet sind oder Konflikte entstehen. Wenn Diskrepanzen auftreten, helfen die gemeinsame Vision und die Ziele dabei, die Beziehung neu zu justieren und auf Kurs zu halten.

Aus der Praxis ist bekannt, dass eine gut formulierte gemeinsame Vision nicht nur Zukunftsperspektiven aufzeigt, sondern auch Motivation und Inspiration schafft. Die Vision dient als „Nordstern“ der Partnerschaft, der über das individuelle Eigeninteresse hinausweist und eine größere Zielsetzung verkörpert. Ein berühmtes Beispiel dafür ist John F. Kennedys Vision, innerhalb eines Jahrzehnts einen Menschen zum Mond zu bringen. Diese klare und ambitionierte Zielsetzung bündelte die Anstrengungen zahlreicher Akteure und führte letztlich zum Erfolg.

Die gemeinsame Vision und die strategischen Ziele erfüllen drei zentrale Funktionen: Sie schaffen einen übergeordneten Zweck für die Zusammenarbeit, sie machen die angestrebte Zukunft allen Beteiligten transparent und sie bieten Orientierung bei Entscheidungsprozessen im laufenden Geschäft. In relationalen Verträgen sind sie meist einer der ersten Textelemente und prägen das Verständnis und die Zusammenarbeit während der gesamten Vertragsdauer.

Neben der theoretischen und praktischen Bedeutung ist zu beachten, dass das gemeinsame Verständnis der Vision und Ziele kontinuierlich gepflegt und angepasst werden muss. Veränderungen in der Umwelt, im Markt oder bei den Parteien selbst erfordern eine dynamische Haltung, die den Vertrag lebendig hält. Die Vision fungiert dabei als stabilisierendes Element, das trotz aller Veränderungen einen gemeinsamen Handlungsrahmen bietet.

Von großer Bedeutung ist auch die Einbeziehung aller relevanten Stakeholder in diesen Prozess – nicht nur die Führungskräfte, sondern auch Mitarbeiter, Kunden und andere Beteiligte. Nur durch die breite Akzeptanz und das gemeinsame Commitment entsteht die Kraft, die aus einer bloßen Absichtserklärung eine lebendige und wirkungsvolle Grundlage für Kooperation macht.