Die klassische Pragmatismus-Tradition befasste sich kaum mit Fragen von Macht und Ungleichheit. Dennoch beeinflusste sie spätere Theorien zu Rasse und Geschlecht entscheidend, indem sie den Blick auf die subjektive Erfahrung sozialer Unterschiede lenkte. Eine ihrer kaum ausgeschöpften Stärken liegt im Verständnis sogenannter „subjektiver Ungleichheit“ – also jener inneren Wahrnehmung von Ungerechtigkeit, die nicht nur auf objektiven Verhältnissen, sondern auf moralischen und kulturellen Urteilen beruht. Diese Dimension bildet das Fundament einer Analyse, die über bloße Einkommensvergleiche hinausgeht und danach fragt, wie Menschen Ungleichheit empfinden, bewerten und rechtfertigen.

Untersuchungen zu Einstellungen gegenüber Ungleichheit zeigen, dass Menschen sehr unterschiedliche Auffassungen darüber haben, was „zu viel“ oder „gerecht“ ist. Obwohl öffentliche Debatten in der Regel wirtschaftliche Ungleichheit in den Mittelpunkt stellen, sind Wahrnehmungen stets durch gesellschaftliche, historische und kulturelle Rahmenbedingungen geprägt. Daten internationaler Umfragen machen deutlich, dass selbst in stark ungleichen Gesellschaften Unzufriedenheit nicht zwangsläufig wächst. Hohe Ungleichheit führt nicht automatisch zu politischem Protest oder Forderungen nach Umverteilung. Vielmehr scheint sie – paradoxerweise – in manchen Kontexten mit wachsender Akzeptanz sozialer Unterschiede einherzugehen.

Diese Ambivalenz hängt eng mit dem Unterschied zwischen Ungleichheit und Ungerechtigkeit zusammen. Menschen empfinden nicht jede Ungleichheit als moralisch problematisch. Erst wenn sie glauben, dass die Verteilung von Ressourcen und Chancen nicht verdient oder nicht legitim ist, entsteht ein Gefühl der Ungerechtigkeit. Solange Ungleichheit als Folge eigener Leistung, Anstrengung oder „natürlicher“ Unterschiede gilt, wird sie hingenommen, oft sogar als notwendig für gesellschaftlichen Fortschritt verteidigt.

Meinungsforschung und empirische Sozialwissenschaften stehen vor dem Problem, dass Einstellungen zu Ungleichheit schwer zu messen sind. Standardisierte Fragebögen abstrahieren von alltäglichen Erfahrungen, in denen Menschen Gerechtigkeit verhandeln – am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, in der Familie. Wenn Befragte etwa angeben, sie hielten „Einkommensunterschiede“ für gerechtfertigt, meinen sie häufig etwas anderes als die Forscher, die die Frage formuliert haben. Das Verständnis von „Ungleichheit“ hängt davon ab, ob sie zwischen Arm und Reich, zwischen Geschlechtern, Ethnien oder sozialen Klassen gedacht wird.

Die Komplexität der Einstellungen spiegelt sich in scheinbaren Widersprüchen: Menschen, die von Ungleichheit negativ betroffen sind, zeigen nicht immer eine größere Ablehnung gegenüber ihr. In manchen Ländern wächst mit der ökonomischen Spaltung sogar die Toleranz gegenüber Reichtum. Solche Muster lassen sich teilweise durch die kulturelle Bedeutung von Leistung und Selbstverantwortung erklären. Wer glaubt, dass Wohlstand das Resultat individuellen Fleißes ist, neigt dazu, Armut als persönliches Versagen zu deuten. Diese Überzeugung wirkt als moralischer Filter, der Empörung dämpft und gesellschaftliche Hierarchien stabilisiert.

Zugleich wird deutlich, dass Einstellungen zu Ungleichheit keine bloßen Meinungen sind, sondern Ausdruck tieferer sozialer Identitäten. Menschen beurteilen Ungleichheit nicht nur aus ökonomischem Interesse, sondern auch, um ihr Selbstbild und ihren Platz in der Gesellschaft zu bestätigen. Daher kann hohe Ungleichheit paradoxerweise politische Passivität fördern: Wer sich als „Verlierer“ erlebt, glaubt oft, ohnehin keinen Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungen zu haben. Das Gefühl der Ohnmacht ersetzt den Willen zur Veränderung.

All diese Dynamiken machen deutlich, dass Einstellungen zu Ungleichheit kein zuverlässiger Indikator für politische Handlungsbereitschaft sind. Zwischen der Wahrnehmung von Ungerechtigkeit und kollektivem Handeln liegt ein weiter Raum, der von psychologischen, kulturellen und institutionellen Faktoren geprägt wird. Um die moralische Ökonomie moderner Gesellschaften zu verstehen, genügt es daher nicht, nur ökonomische Daten oder Umfrageergebnisse zu analysieren. Entscheidend ist, wie Menschen Ungleichheit in ihrem Alltag deuten, ob sie ihr Legitimität zuschreiben und welche emotionalen Reaktionen – Empörung, Resignation oder Gleichgültigkeit – daraus entstehen.

Wichtig ist zu verstehen, dass subjektive Wahrnehmungen von Ungleichheit nicht einfach Spiegel objektiver Verhältnisse sind, sondern Teil der sozialen Struktur selbst. Gesellschaften reproduzieren sich nicht nur durch materielle Institutionen, sondern auch durch kollektive Vorstellungen von Fairness. Wer begreifen will, warum Ungleichheit trotz wachsender Ungerechtigkeit bestehen bleibt, muss diese kulturellen und psychologischen Mechanismen in den Mittelpunkt rücken. Nur dort lässt sich erkennen, wie tief der Glaube an die Gerechtigkeit des Ungerechten in modernen Gesellschaften verankert ist.

Wie wird Ungleichheit übersehen und warum bleibt sie bestehen?

In der sozialen Welt entsteht die Macht der Dominanz nicht nur durch Zwang, sondern durch das, was Bourdieu als symbolische Gewalt bezeichnet: eine Form der Unterwerfung, die sich in die alltägliche Wahrnehmung, in Sprache, Körper und Gewohnheiten einschreibt. Diese Form der Herrschaft wirkt deshalb so effektiv, weil sie meist unbemerkt bleibt. Sie erscheint den Menschen als natürlich, selbstverständlich, unumgänglich. Das, was „ohne zu sagen gesagt“ wird, bleibt unbefragt und damit unangefochten.

Die Standards einer dominanten Gruppe werden auf diese Weise verallgemeinert und als Norm gesetzt – Schönheit, Macht, Erfolg erscheinen in kulturellen Bildern, die tief aus spezifischen, meist weißen, westlichen, heteronormativen Vorstellungen stammen. Diese Bilder, global verbreitet durch Medien, erzeugen eine unsichtbare Vergleichsstruktur, an der sich andere messen, disziplinieren und korrigieren. Solche kulturellen Konstruktionen schaffen eine Welt, in der Ungleichheit nicht nur reproduziert, sondern auch legitimiert wird, weil sie den Anschein des Natürlichen, des Selbstverständlichen trägt.

Bourdieus Konzept des doxa beschreibt genau diesen unreflektierten Glauben an die soziale Ordnung. Menschen nehmen ihre gesellschaftlichen Positionen nicht als willkürlich oder historisch entstanden wahr, sondern als Teil einer natürlichen Ordnung. Erst wenn eine Krise eintritt, wenn das, was gewohnt war, plötzlich nicht mehr funktioniert, beginnt sich das Bewusstsein zu verschieben. In solchen Momenten, wenn der habitus nicht mehr mit dem Feld übereinstimmt, kann eine kritische Reflexivität entstehen. Aber diese Augenblicke sind selten. Der Mensch bleibt, wie Bourdieu schreibt, meist konservativ in seinen Dispositionen – an die Ordnung angepasst, auch wenn sie ihn unterdrückt.

Doch nicht alle Theoretiker teilen Bourdieus Pessimismus. Kritiker wie Eagleton oder Lawler betonen, dass Bourdieu die Macht der symbolischen Gewalt überschätze. Menschen sind fähig, kritisch zu denken, auch wenn sie den Strukturen folgen. Es ist möglich, ein System als ungerecht zu erkennen und sich dennoch ihm anzupassen, aus Angst, Notwendigkeit oder Mangel an Alternativen. Diese Ambivalenz – das gleichzeitige Wissen und die Unterwerfung – zeigt, dass Ideologie nie vollständig verinnerlicht ist. Der Widerstand bleibt als Möglichkeit bestehen, auch wenn er im Verborgenen bleibt.

Fanon verlagert diese Diskussion in den kolonialen Kontext und zeigt, dass ideologische Herrschaft dort an ihre Grenzen stößt. Koloniale Macht, so schreibt er, kann niemals völlig symbolisch legitimiert werden, weil sie in sichtbarer, physischer Gewalt wurzelt. Die Brutalität der Unterdrückung entlarvt die Ideologie der „zivilisierenden Mission“. Der Kolonisierte mag unterworfen sein, doch er ist „nicht domestiziert“. Seine Muskeln sind angespannt, sein Körper lebt im Bewusstsein der Fremdherrschaft. Die Herrschaft ist real, aber sie überzeugt nicht. Sie zwingt, aber sie täuscht nicht vollständig.

Ähnlich argumentiert bell hooks, dass die Ideologie der weißen Vorherrschaft in den USA nie völlig erfolgreich war. Schwarze Gemeinschaften, selbst wenn sie gesellschaftlich marginalisiert und ökonomisch entrechtet waren, bewahrten einen kritischen Blick auf die herrschende Ordnung. Sie sahen sich nicht als intellektuell minderwertig, sondern als Opfer ungleicher Umstände. Unter Bedingungen der Sklaverei und Segregation war kritisches Denken keine theoretische Übung, sondern eine Überlebensstrategie. Unterdrückung schärft, paradoxerweise, das Bewusstsein – sie zwingt zur Aufmerksamkeit, zur ständigen Analyse der Machtverhältnisse, um zu überleben.

So zeigt sich, dass die „Natürlichkeit“ der sozialen Ordnung nie vollständig ist. Das, was als selbstverständlich gilt, wird immer wieder gebrochen, angefochten, neu interpretiert. Symbolische Gewalt ist wirksam, aber nie total. Ihre Macht beruht auf Gewöhnung, nicht auf Überzeugung. Deshalb sind Brüche, Krisen und Widersprüche so entscheidend: sie öffnen Räume, in denen Wahrnehmung neu geordnet und Bedeutung umgeschrieben werden kann.

Wichtig ist, zu verstehen, dass der Prozess der „Ent-Naturalisierung“ nicht automatisch geschieht. Er verlangt Bewusstsein, Sprache und kollektive Erfahrung. Die Fähigkeit, das Gegebene in Frage zu stellen, erwächst nicht aus der Distanz zur Welt, sondern aus der Erfahrung des Konflikts in ihr. Kritik entsteht nicht im Rückzug, sondern im Leben selbst – dort, wo die Ordnung der Dinge nicht mehr trägt.

Die institutionalisierte Kritik und ihre Grenzen: Ein Blick auf die modernen Machtstrukturen des Kapitalismus

Die gegenwärtige Ausprägung kapitalistischer Herrschaft hat einen entscheidenden Wandel erfahren, indem sie ihre Kritik intern absorbiert und in das System integriert hat. Diese Entwicklung macht es möglich, dass Kritik in der "managerialen Herrschaftsordnung" nicht nur entschärft, sondern auch umgelenkt wird. Der Übergang zu einem "neuen Geist" des Kapitalismus stellt einen hegemonialen Wandel dar, wobei Konzepte wie "Initiative", "Kreativität", "Imagination", "Transparenz", "Engagement", "Offenheit", "Dialog" und "Teamarbeit" als neue Legitimationen kapitalistischer Herrschaft fungieren. Diese Elemente ermöglichen es dem Kapitalismus, eine außergewöhnliche ideologische Legitimation zu gewinnen und sich nicht nur systemisch anzupassen, sondern auch als das einzig akzeptable und lebensfähige Wirtschaftssystem zu erscheinen.

In dieser neuen Ära des Kapitalismus wird Kritik nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen, sondern als ein Werkzeug, das den bestehenden Ordnungsmustern zur Legitimation dient. Diese Form der Kritik ist jedoch in ihrer Reichweite begrenzt, da sie ständig angepasst wird, um den Zielen der dominierenden Institutionen zu dienen. In vielen Fällen wird Kritik in Form von "Existenztests" formuliert, die auf der affektiven Erfahrung von Ungerechtigkeit basieren. Diese Existenztests stellen eine Art Widerstand dar, die jedoch in der Regel ohne kollektive Unterstützung als "subjektive" Erfahrungen abgetan werden. Sie laufen Gefahr, als bloße Empfindlichkeiten oder als Produkte individueller Defizite entwertet zu werden.

Ein weiterer Aspekt dieses Phänomens ist die "Dominanz durch Veränderung", die vor allem in neomanagerialistischen Institutionen auftritt. Hier wird Effizienz als das Hauptkriterium für die Legitimation von Macht betrachtet, was zu einer Kultur des Auditings führt. Diese Kultur ist durch die stetige Anpassung von Prüfungen und Benchmarks gekennzeichnet, die die Möglichkeit einer radikalen Kritik untergraben. Die dominierende Instanz schafft so ein System der permanenten Veränderung, das es den Beherrschten fast unmöglich macht, die zugrunde liegenden Werte zu hinterfragen, bevor sie schon wieder durch neue Prüfungen ersetzt werden.

Doch nicht jede Form der Kritik wird durch diesen Prozess entwaffnet. Boltanski hebt hervor, dass es eine Form der Kritik gibt, die auf affektiven Erfahrungen basiert und nicht so leicht institutionalisiert werden kann – die Existenztests. Diese Kritik stellt eine moralische Klage dar, die aus den Erfahrungen von Ungerechtigkeit, Leid und Demütigung hervorgeht. Sie appelliert an Prinzipien der Legitimität, die außerhalb der Institutionen verankert sind, und stellt somit eine Bedrohung für die bestehende Machtstruktur dar. Aber auch diese Form der Kritik ist nur dann wirksam, wenn sie von einer kollektiven Unterstützung getragen wird. Ohne diese kollektive Unterstützung werden individuelle Klagen oft als "subjektiv" und daher ungültig abgetan.

Es gibt jedoch ein weiteres entscheidendes Element, das die Wirksamkeit von Kritik beeinflusst: der strategische Kontext und die kollektiven Ressourcen, die denjenigen zur Verfügung stehen, die gegen Ungerechtigkeit kämpfen. Während Boltanski in seiner Analyse einen starken Fokus auf die rationalen und kritischen Fähigkeiten des Individuums legt, betont Honneth, dass das kollektive Handeln und die Ressourcen sozialer Bewegungen eine Schlüsselrolle bei der Umgestaltung von persönlichen Erfahrungen von Respektlosigkeit in politische Widerstandshandlungen spielen. Diese soziale Transformation, die individuelle Ungerechtigkeiten zu einer kollektiven moralischen Klage erhebt, kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn es kollektive Unterstützung und eine entsprechende kulturelle Grundlage gibt.

Ein weiteres wichtiges Element dieses Prozesses ist die Rolle von sozialen Bewegungen bei der Erhebung und Legitimation von Klagen. Diese Bewegungen tragen dazu bei, die sozialen Ursachen individueller Verletzungen sichtbar zu machen und so aus fragmentierten, privaten Erfahrungen von Respektlosigkeit eine kollektive politische Agenda zu entwickeln. Besonders marginalisierte Gruppen, wie die Arbeiterklasse oder Menschen aus sozial benachteiligten Verhältnissen, sehen sich häufig mit der Schwierigkeit konfrontiert, ihre Klagen in der breiten Öffentlichkeit durchzusetzen, da ihre Emotionen oft als pathologisch oder als Zeichen von persönlicher Schwäche abgetan werden. Der Mangel an symbolischer Macht und die fehlenden Ressourcen für kollektive Mobilisierung machen es diesen Gruppen jedoch schwer, ihre Forderungen nach Anerkennung durchzusetzen.

In diesem Zusammenhang wird auch das Problem der Medialisierung von Widerstand und Protest deutlich. Oft sind es nicht die Proteste oder Widerstände selbst, die die öffentliche Wahrnehmung prägen, sondern die Art und Weise, wie sie von den Medien und der politischen Elite umgedeutet werden. Ein Beispiel dafür ist die Darstellung der britischen Riots von 2011, bei denen die Demonstranten als arbeitsunwillige, gewalttätige Kriminelle dargestellt wurden. Diese Umdeutung schwächte die politische Dimension des Widerstands und untergrub die sozialen und politischen Anliegen der Protestierenden. Die Art und Weise, wie Widerstand vermittelt und umgedeutet wird, spielt eine entscheidende Rolle bei der erfolgreichen Mobilisierung von politischen Bewegungen.

Es ist entscheidend zu erkennen, dass der Erfolg von Kritik und Widerstand nicht nur von der Fähigkeit abhängt, eine Ungerechtigkeit zu benennen, sondern auch davon, ob es eine breitere soziale Bewegung gibt, die in der Lage ist, diese Kritik zu legitimieren und zu verstärken. Die Diskrepanz zwischen individueller Wahrnehmung und kollektiver Anerkennung bleibt ein zentrales Hindernis für eine erfolgreiche politische Mobilisierung.