Raul Prebisch, ein argentinischer Ökonom, stellte die neoklassische Vorstellung des komparativen Vorteils infrage. Diese Kritik, die als „sinkende Terms of Trade“ bekannt wurde, hatte weitreichende Implikationen für die Wirtschaftstheorien der Nachkriegszeit. Grundlegend besagt sie, dass im bestehenden internationalen Arbeitsteilungssystem die Industrieländer, die Fertigwaren produzieren, einen größeren Anteil der Handelsgewinne einstreichen als die peripheren, weniger entwickelten Länder, die hauptsächlich Rohstoffe exportieren. Prebisch zeigte anhand detaillierter historischer Analysen auf, dass die peripheren Länder zunehmend mehr Primärgüter produzieren müssen, um die gleiche Menge an Fertigwaren zu erhalten. Das Ergebnis dieser ungleichen Handelsbeziehung führt dazu, dass die wirtschaftlichen Vorteile hauptsächlich im Zentrum, also in den Industrieländern, verbleiben.
Um diese ungleiche Entwicklung zu durchbrechen, empfahl Prebisch einen radikaleren Ansatz: den Schutz nationaler Industrien durch Importsubstitution. Ein bemerkenswertes Beispiel für diesen Ansatz ist die Gründung von SOFASA Renault in Kolumbien im Jahr 1969. Diese Initiative veranschaulicht, wie eine Region durch Lizenzfertigung und lokale Produktion ein gewisses Maß an industrieller Selbstgenügsamkeit erreichen kann. SOFASA errichtete Montagewerke, die den ersten regional zusammengebauten Autos in Kolumbien ermöglichten und zugleich die Infrastruktur des Landes förderten. Diese Art der Wirtschaftspolitik, die lokale Industrien schützt und stärkt, war ein Versuch, das Land aus der Abhängigkeit von den Industrieländern zu befreien.
Ein weiteres Beispiel für den Einfluss von Prebischs Ideen ist die Entwicklung der Wirtschaftspolitik in Kuba. Unter der Führung von Fidel Castro versuchte das Land, seine Wirtschaft durch eine verstärkte Industrialisierung und landwirtschaftliche Selbstgenügsamkeit zu transformieren. In den ersten Jahrzehnten der Revolution konzentrierte sich die kubanische Wirtschaft auf die Zuckerproduktion, und es wurden erhebliche Investitionen in landwirtschaftliche Genossenschaften und staatlich geführte Agrarunternehmen getätigt. Der Export von Zucker wurde dabei bevorzugt über den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON), ein sowjetisches Handelsbündnis, abgewickelt. Doch als dieses System in den frühen 1990er Jahren zusammenbrach, befand sich Kuba in einer schweren wirtschaftlichen Krise, die zu drastischen Einbrüchen in der Zuckerproduktion und weit verbreiteter Mangelernährung führte.
Die „Theorie der Abhängigkeit“, die sich aus den Arbeiten von Prebisch entwickelte, geht über die simple Erklärung der Handelsungleichgewichte hinaus. Sie betrachtet Unterentwicklung nicht als ein vorübergehendes Stadium der Entwicklung, sondern als ein strukturelles Ergebnis der kolonialen Ausbeutung. In dieser Perspektive sind die peripheren Länder in einem dauerhaften Zustand der Abhängigkeit von den Industrieländern gefangen. Diese Abhängigkeit manifestiert sich nicht nur in Handelsungleichgewichten, sondern auch in der technologischen Rückständigkeit und der mangelnden Infrastruktur, die die wirtschaftliche Entwicklung behindern.
Die wichtigsten Merkmale dieser Abhängigkeitstheorie beinhalten das Fehlen von Technologietransfer und die geringe industrielle Entwicklung in den peripheren Ländern. Auch die Infrastruktur dieser Länder wurde historisch gesehen nach den Bedürfnissen der Kolonialmächte und nicht nach den lokalen Anforderungen der Entwicklung ausgerichtet. Eisenbahnen und Straßen wurden so gebaut, dass sie die Exporte von Rohstoffen in die Metropolen erleichterten, anstatt die lokale Wirtschaft zu fördern.
Die Lösung, die von den Anhängern der Theorie vorgeschlagen wird, ist eine radikale Abkopplung von den globalen Märkten. Diese „Delinkung“ würde es den betroffenen Ländern ermöglichen, ihre eigenen Ressourcen zu nutzen und unabhängige, nationalisierte Industrien aufzubauen, die auf den eigenen Bedarf ausgerichtet sind. Dies würde nicht nur die wirtschaftliche Unabhängigkeit fördern, sondern auch die Schaffung eines lokalen Expertentums und die Ausbildung von Fachkräften in verschiedenen Sektoren erfordern.
Ein interessantes Beispiel für die Anwendung dieser Theorie stellt die Kubanische Revolution dar. Trotz des versuchten Aufbaus einer unabhängigen Wirtschaft, die sich nicht auf den internationalen Handel und die Abhängigkeit von imperialistischen Mächten stützte, war Kuba mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Die Schwierigkeiten, die das Land nach dem Zusammenbruch des COMECON erlebte, verdeutlichen, wie fragil solche Modelle sein können, wenn sie nicht ausreichend auf eine langfristige Selbstgenügsamkeit und Diversifizierung der Wirtschaft ausgerichtet sind.
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die Theorie der Abhängigkeit auch kritisiert wurde. Kritiker argumentieren, dass sie zu simplifizierend ist und nicht ausreichend die komplexen globalen Dynamiken berücksichtigt, die zu einer verstärkten Vernetzung der Weltwirtschaft geführt haben. Dennoch bleibt die Frage der Abhängigkeit in der globalisierten Welt nach wie vor relevant, besonders in Bezug auf die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den entwickelten und den sich entwickelnden Ländern.
Neben den klassischen Lösungen wie der Importsubstitution könnten sich heute neue Ansätze als notwendig erweisen. Es wäre wichtig, dass Entwicklungsländer nicht nur versuchen, sich von den internationalen Märkten zu isolieren, sondern auch Strategien entwickeln, die eine aktive und gleichberechtigte Teilnahme am globalen Wirtschaftssystem ermöglichen. Dazu gehören Innovationen im Bereich der Technologie, eine bessere Integration in internationale Wertschöpfungsketten und die Schaffung von Partnerschaften, die den Austausch von Wissen und Ressourcen fördern, anstatt lediglich von den bestehenden Strukturen der Abhängigkeit zu profitieren.
Wie beeinflusst die Entwicklung von Arbeitsrecht die Industrialisierung und Arbeit im globalen Süden?
Im Kontext der Entwicklungsprozesse von Ländern des globalen Südens ist das Konzept der Importsubstitution und Industrialisierung von zentraler Bedeutung. Diese Form der Industrialisierung strebt die lokale Produktion von Waren an, die zuvor importiert wurden, und soll als Sprungbrett für nachhaltiges Wirtschaftswachstum dienen. Die damit verbundene Hoffnung ist, dass eine fundamentale Transformation der Arbeitswelt stattfindet, indem die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die traditionell in Subsistenzwirtschaften oder Kleinhandelsaktivitäten tätig war, in Lohnarbeit übergeht. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) befürwortete diese Veränderung und beschrieb Arbeiter, die außerhalb der Lohnarbeit tätig sind, als „versteckte Arbeitslosigkeit“ oder Unterbeschäftigung. So entstand die Vorstellung, dass die Verbreitung von Lohnarbeit in Entwicklungsregionen nicht nur zu einer Verbesserung von Löhnen und Arbeitsbedingungen führen würde, sondern auch zu einer Transformation der Arbeitsverhältnisse hin zu den etablierten Normen der industrialisierten Länder des Globalen Nordens.
Ein zentrales Anliegen von Arbeitsrechtsorganisationen und der ILO war es, diese Rechte und Schutzmaßnahmen auf Arbeiter auszudehnen, die außerhalb des formellen Sektors tätig sind. Doch dies stellte sich als äußerst schwierig heraus, da das traditionelle Modell des Arbeitsrechts in den Industrienationen des 20. Jahrhunderts entstand und auf einer bestimmten Vorstellung von Arbeit beruht, die nicht unbedingt auf die Bedingungen im globalen Süden übertragbar ist.
Das Arbeitsrecht in seiner klassischen Form basiert auf dem sogenannten „Standardarbeitsverhältnis“, das durch eine langfristige, unbefristete Anstellung eines männlichen „Ernährers“ gekennzeichnet ist. Diese Vorstellung von Arbeit schließt jedoch eine Vielzahl von Arbeitsverhältnissen aus, die im globalen Süden weit verbreitet sind. Insbesondere die Mehrheit der Arbeitskräfte in Entwicklungsländern ist selbstständig und arbeitet außerhalb formalisierter Arbeitsverhältnisse. Da das Arbeitsrecht in der Regel an das Arbeitsverhältnis als Voraussetzung für Rechte und Schutzmaßnahmen anknüpft, bleibt ein Großteil der Arbeiter in diesen Regionen ausgeschlossen.
Darüber hinaus ist die traditionelle Arbeitsrechtsnorm nicht nur in den Entwicklungsländern schwer anwendbar, sondern auch in den post-industriellen, dienstleistungsorientierten Volkswirtschaften des Globalen Nordens zunehmend unzureichend. Hier führt die Fragmentierung der Produktion und die Zunahme von Vertragsarbeitsverhältnissen dazu, dass das Arbeitsrecht der industrialisierten Welt nicht mehr der Realität entspricht. Im globalen Süden ist dieser Widerspruch jedoch noch deutlicher, da die Arbeitsverhältnisse dort historisch und kulturell anders strukturiert sind.
Die Arbeitsmärkte in den meisten Entwicklungsländern sind gekennzeichnet durch ein überwiegendes Fehlen formeller Arbeitsverhältnisse. Informelle Arbeitsverhältnisse, die in vielen Fällen nicht nur ungeschützt sind, sondern auch keine rechtlichen Garantien bieten, dominieren den Arbeitsmarkt. Diese informellen Arbeitsverhältnisse haben ihre eigene Logik und können nicht mit den traditionellen Vorstellungen von Arbeit, die im Arbeitsrecht verankert sind, in Einklang gebracht werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die historische Rolle von Arbeit im globalen Süden. Arbeitskraft aus Entwicklungsländern spielte eine untergeordnete, aber unverzichtbare Rolle in der Industrialisierung des Globalen Nordens. Auch heute noch manifestieren sich hier hierarchische Arbeitsverhältnisse, insbesondere innerhalb transnationaler Lieferketten. Diese asymmetrischen Beziehungen prägen nicht nur die Arbeitsbedingungen der dort Beschäftigten, sondern auch die Art und Weise, wie Arbeitsrecht angewendet und durchgesetzt wird.
Die Herausforderungen für das Arbeitsrecht im globalen Süden sind somit nicht nur struktureller und historischer Natur, sondern auch rechtlicher. Die klassische Vorstellung von Arbeit, die in den Industrieländern entwickelt wurde, ist unzureichend, um die komplexen Arbeitsrealitäten in Entwicklungsländern zu erfassen. Eine Neudefinition von Arbeitsrecht und arbeitsrechtlichen Schutzmechanismen könnte notwendig sein, um die Bedingungen für diese Arbeiter zu verbessern. Statt von einer standardisierten Vorstellung von Arbeit auszugehen, müsste das Arbeitsrecht flexibel auf die tatsächlichen Arbeitsbedingungen reagieren und sowohl informelle als auch formelle Arbeitsverhältnisse in den Blick nehmen.
In Bezug auf die Entwicklung der Arbeitsmärkte bleibt es daher von zentraler Bedeutung, die vielfältigen Formen der Arbeit und ihre unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Die Entwicklung von Arbeitsrecht in diesen Regionen kann nicht nur als eine Erweiterung bestehender Normen betrachtet werden, sondern muss eine grundlegende Auseinandersetzung mit den realen Arbeitspraktiken und den sozialen und ökonomischen Bedingungen dieser Länder sein. Zudem ist es wichtig, auch die kulturellen und historischen Aspekte der Arbeit in den Entwicklungsregionen zu verstehen, um wirksame und gerechte Arbeitsrechte zu etablieren.
Wie das Verhalten als Technologie der Entwicklung koloniale und neoliberale Strukturen verstärken kann
Verhaltensökonomie und die damit verbundenen Technologien haben sich zu zentralen Instrumenten der modernen Entwicklungsstrategien entwickelt. Der Trend, das menschliche Verhalten gezielt zu regulieren, ist eng mit der neoliberalen Agenda verbunden, die individuelle Entscheidungen im Sinne des Marktes und des wirtschaftlichen Wachstums ausrichtet. Dabei wird jedoch häufig außer Acht gelassen, dass die zugrundeliegenden wirtschaftlichen und sozialen Strukturen komplex und miteinander verknüpft sind. Statt die Bedingungen von Armut und Unterentwicklung als relationales Phänomen zu begreifen, konzentrieren sich diese Technologien oft darauf, die Entscheidungsprozesse der Individuen selbst zu verändern, um sie zu „besseren“ Entscheidungen zu lenken. Doch dieses Vorgehen kann die politischen und sozialen Kräfte, die Armut und Ungleichheit hervorrufen, verschleiern und depolitisiert die Entwicklungsprozesse.
Ein besonders problematischer Aspekt dieser Technologie ist die mangelnde Transparenz für die betroffenen Menschen. Viele der Individuen, die durch diese Verhaltensinterventionen beeinflusst werden, sind sich nicht bewusst, dass sie gezielt in eine bestimmte Richtung gedrängt werden. Es stellt sich daher die Frage nach der freien, informierten und vorherigen Zustimmung dieser Menschen zu solchen Maßnahmen. Dies ist nicht nur eine Frage der Ethik, sondern betrifft auch die fundamentalen Prinzipien der Entwicklungsarbeit. Die Idee, dass Verhaltensänderungen auf individueller Ebene ausreichen, um tief verwurzelte gesellschaftliche Probleme zu lösen, übersieht die strukturellen Ungleichgewichte und die Machtverhältnisse, die weltweit in der Entwicklungspolitik eine Rolle spielen.
Neoliberale Interventionen, die in erster Linie darauf abzielen, das Verhalten von Individuen zu ändern, sind in diesem Kontext besonders problematisch. Sie ignorieren die Tatsache, dass Armut und Unterentwicklung nicht nur durch individuelles Verhalten, sondern durch umfassende wirtschaftliche, soziale und politische Prozesse erzeugt werden. Diese Prozesse beinhalten unter anderem den Zugang zu Ressourcen, die Verteilung von Macht und das wirtschaftliche System selbst, das viele Menschen marginalisiert und von der Entwicklung ausschließt.
Ein weiterer kritischer Punkt ist die Ausweitung dieser Verhaltensstrategien auf globaler Ebene. Durch die Globalisierung von Verhaltensökonomie und der damit verbundenen Technologien wird ein universelles Modell von Individuum und Verhalten auf die unterschiedlichsten kulturellen und sozialen Kontexte angewendet. Diese universelle Perspektive stammt jedoch größtenteils aus einer westlichen, liberalen Tradition, die das Individuum als autonom und rational ansieht. In vielen Teilen der Welt sind jedoch andere Konzepte von Identität und Selbstverständnis vorherrschend, die nicht in dieses westliche Modell passen.
Darüber hinaus wird in vielen Studien der verhaltenswissenschaftlichen Expertise nicht berücksichtigt, dass verschiedene Kulturen und Gesellschaften unterschiedliche epistemologische und ontologische Auffassungen von „Selbst“ und „Verhalten“ haben. Die westliche Psychologie, die oft als Grundlage für diese Interventionen dient, universalisiert Konzepte, die in ihrer ursprünglichen Form nicht für andere kulturelle Kontexte geeignet sind. Diese unkritische Anwendung westlicher psychologischer Modelle führt nicht nur zu Fehlinterpretationen, sondern auch zu einem weiteren Verstärkungsmechanismus der kolonialen Strukturen.
Die Kolonialität des Verhaltens, die durch die Globalisierung dieser Technologien entsteht, ist nicht nur ein epistemologisches Problem, sondern auch ein ontologisches. Sie beeinflusst, wie das „Selbst“ und das Verhalten des Individuums im globalen Diskurs wahrgenommen werden. Kolonialität geht über die bloße Machtverteilung hinaus und betrifft auch, wie Wissen produziert, verbreitet und legitimiert wird. In diesem Kontext wird das Wissen, das durch diese Technologien erzeugt wird, als objektiv und universal gültig betrachtet, obwohl es in Wirklichkeit von einer spezifischen epistemologischen Tradition geprägt ist, die viele Kulturen und Denkweisen ausschließt.
Die Problematik wird durch die fortschreitende Digitalisierung noch verstärkt. Digitale Technologien ermöglichen eine präzisere und umfassendere Steuerung des Verhaltens von Individuen, was das Potenzial hat, neue Formen der Überwachung und Kontrolle einzuführen. Während digitale Technologien als Lösung für Entwicklungsprobleme wie Armut oder Ungleichheit dargestellt werden, verstärken sie in Wirklichkeit die bestehenden Machtverhältnisse und stellen neue Risiken für die Privatsphäre und die Autonomie von Individuen dar.
Der Einsatz von Verhaltenstechnologien in der Entwicklungspolitik, besonders in Verbindung mit digitalen Werkzeugen, kann somit nicht nur bestehende Machtverhältnisse verdecken, sondern auch neue Formen von Kontrolle und Unterdrückung schaffen. Es ist daher entscheidend, die zugrunde liegenden Annahmen über das Verhalten und das Individuum zu hinterfragen und die kolonialen und neoliberalen Strukturen zu erkennen, die solche Technologien stützen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der berücksichtigt werden muss, ist, dass die westliche Perspektive auf das Individuum und dessen Verhalten nicht universell gültig ist. In vielen Kulturen gibt es völlig andere Auffassungen darüber, was es bedeutet, ein Individuum zu sein, und welche Verhaltensweisen als normativ gelten. Diese Unterschiede sollten nicht nur anerkannt, sondern auch in die Entwicklungspolitik integriert werden, um eine wirklich inklusive und gerechte Entwicklung zu fördern. Die Herausforderung besteht darin, die Perspektiven von marginalisierten und kolonialisierten Völkern zu integrieren und ihre eigenen Vorstellungen von Wohlstand, Identität und Gesellschaft zu respektieren.
Wie kann indigene Selbstbestimmung in modernen Rechtsrahmen neu gedacht werden?
Die rechtliche Anerkennung indigener Nationen und ihrer Souveränität stellt eine Herausforderung dar, besonders in Staaten, deren Verfassungen und Gesetze eng mit westlichen, kolonialen Modellen verknüpft sind. Die Erfahrungen in Australien, Neuseeland und Kanada verdeutlichen die Schwierigkeiten, die bei der Anerkennung indigener Selbstbestimmung und territorialer Rechte auftreten, selbst wenn diese Länder multilaterale Regelungen zur Integration indigener Völker implementiert haben.
In diesen Ländern ist es notwendig, dass indigene Nationen schriftliche Verfassungen oder Kodizes vorlegen, um den Status einer offiziellen Entität zu erhalten. Doch trotz dieser formalen Anerkennung bleibt ihre tatsächliche Autonomie begrenzt. In Nordamerika, beispielsweise, haben indigene Völker die Kontrolle über abgegrenzte Gebiete (Reservate in Kanada und den USA), auf denen sie den Zugang regulieren und den Aufenthalt verwalten können. Dies steht jedoch im Kontrast zu den indigenen Völkern in Australien und Neuseeland, deren territoriale Hoheitsrechte sich lediglich auf die Verwaltung von Landansprüchen aus historischen Siedlungsprozessen beschränken.
Selbst die von den obersten Gerichten Kanadas und Australiens entwickelten Konzepte wie das „Native Title“-Recht, das anerkennt, dass die Kolonialisierung nicht alle indigenen Landansprüche ausgelöscht hat, sind in ihrer Wirkung stark begrenzt. Diese Doktrin basiert auf der Annahme, dass die Krone das „ursprüngliche“ Eigentum an allen Ländereien hält, was von indigenen Völkern verlangt, dass sie ihre fortwährende, traditionelle Verbindung zu den Gebieten mit den Mitteln des westlichen Rechtssystems beweisen müssen. Ein solches Verfahren, das auf den Prinzipien des britischen Common Law basiert, räumt den indigenen Völkern kaum Raum für Verhandlungen oder die Wahrnehmung ihrer Souveränität. Das Recht, Territorien zu kontrollieren, bleibt somit in den Händen des Staates, der zudem die Möglichkeit hat, „indigene Titel“ ohne Konsultation oder Entschädigung zu tilgen.
Diese rechtlichen Rahmenbedingungen führen dazu, dass der Anspruch indigener Völker auf Selbstbestimmung oft in neoliberale und multikulturelle Strukturen verstrickt bleibt, die ihre Fähigkeit, als souveräne Nationen anerkannt zu werden, erheblich einschränken. Es zeigt sich, dass der internationale Anspruch auf indigene Selbstbestimmung, lokalisiert in nationalen Kontexten, häufig in kolonialen Strukturen gefangen bleibt, die eine wahre Anerkennung indigener Nationen und ihrer territorialen Rechte verhindern.
In diesem Kontext hat sich ein neues Konzept von „Plurinationalismus“ entwickelt, das in Ländern Lateinamerikas wie Bolivien und Ecuador konkrete politische Gestalt angenommen hat. Plurinationalismus geht über den Multikulturalismus hinaus, der lediglich die Anerkennung ethnischer Minderheiten innerhalb eines einheitlichen Staates fordert. Er zielt darauf ab, die Existenz indigener Nationen als gleichwertige politische Einheiten innerhalb eines neuen Staatsmodells zu anerkennen. In Bolivien, zum Beispiel, wurde mit der Verfassung von 2009 die Idee eines plurinationalen Staates formuliert, in dem die Rechte indigener Völker auf Selbstbestimmung und territoriale Autonomie ausdrücklich verankert sind. Dies umfasst nicht nur die Anerkennung der „Ureinwohner als Nationen“, sondern auch die Einführung von interkulturellen politischen Maßnahmen und die Einrichtung von spezifischen Sitzen für indigene Vertreter im Kongress und im Obersten Gericht.
Ein zentrales Merkmal dieses Modells ist die Schaffung von „Autonomien der ersten indigenen Völker und Bauern“ (Autonomías Indígena Originaria Campesinas). Hierbei handelt es sich nicht um administrative Einheiten, sondern um politische Instanzen, die den indigenen Nationen die Möglichkeit zur Selbstverwaltung in ihrem angestammten Territorium geben. Diese Form der Autonomie stellt jedoch ein Problem dar, wenn man die geopolitische Organisation Boliviens betrachtet, die in größere Verwaltungseinheiten wie Departements und Provinzen unterteilt ist. Die Verfassung und das Gesetz zur Autonomie von 2010 schränken die indigene Autonomie ein, indem sie den indigenen Territorien die bestehenden administrativen Grenzen der Gemeinden zuordnen, was im Gegensatz zu den traditionellen, weit größeren Territorien steht, die von indigenen Völkern vor der Kolonialisierung beansprucht wurden.
Dieser plurinationale Ansatz versucht, die historische Diskrepanz zwischen Landrechten und territorialer Souveränität zu überwinden. Statt von „Gemeindeland“ zu sprechen, verwendet die bolivianische Verfassung den Begriff „Ureinwohner-Territorium“, um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um einfache Landansprüche handelt, sondern um die Anerkennung indigener Völker als souveräne politische Einheiten. Diese territoriale Umbenennung ist ein wichtiger Schritt, um die indigenen Völker nicht nur als Besitzer von Land, sondern als Nationen mit einem eigenen Recht auf Selbstbestimmung und territorialer Integrität zu behandeln.
Die Umsetzung von Plurinationalismus in Bolivien und anderen Staaten Lateinamerikas zeigt jedoch, dass diese Neuerungen nicht ohne Konflikte und Herausforderungen bleiben. Die Integration indigener Autonomien in bestehende staatliche Strukturen erfordert weitreichende Reformen, die mit den Interessen der bestehenden politischen und wirtschaftlichen Eliten in Konflikt geraten können. Die Frage bleibt, inwieweit diese neuen politischen Modelle die Grundlage für eine echte Anerkennung indigener Souveränität schaffen können, oder ob sie nicht nur eine Fassade für eine fortbestehende koloniale Ordnung darstellen.
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